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Portrait: „Die Wirklichkeit steckt voller Wunder!"

Über den Filmemacher Wolf Hart

Von Dr. Joachim Paschen

Ein Teil des Nachlasses von Wolf Hart, der jahrzehntelang als Filmemacher in Hamburg gewirkt hat, konnte Anfang 2003 vom Hamburger Film- und Fernsehmuseum e.V. übernommen werden. Neben schriftlichen Materialien (darunter viele Drehbücher) und zahlreichen Auszeichnungen gehören dazu vor allem Filmkopien in großer Zahl. Der folgende Überblick kann nur eine erste Annäherung an einen der wichtigsten Vertreter des deutschen „Kulturfilms" sein; für die hilfreichen und interessanten Gespräche mit Helga Hart, seiner Frau, und Sabine Rech, seiner Tochter, bin ich sehr dankbar.

 

Wolf Hart gehört zu jener Generation von Filmemachern, die den Film als Kunstwerk verstanden haben, und zwar auch die Filme, die sich als Nicht-Spielfilme mit der Wirklichkeit befassen. Die Wirklichkeit war für ihn „voller Poesie", wie er es 1962 in einem Vortrag in Hamburg ausdrückte, der er mit filmischen Mitteln zum Ausdruck verhalf. Ganz bewusst setzte ersieh vom Begriff des „Dokumentarfilms" ab, weil er kein bloßer Reporter sein wollte, vielmehr bestand er auf dem Begriff „Kulturfilm", der eine künstlerische Gestaltung seiner Aussagen verlangte. Sein großes Vorbild war Robert Flaherty, den er verehrte und an dem er sich maß.

 

Kulturfilm war ihm weit mehr als Spielfilm, weil er die „gesamte sichtbare Schöpfung" umschloss. Er sollte sich auch absetzen vom „Propagandafilm" und vom „Lehrfilm"; gegen beide setzte er sein Programm von „Wahrheitsfindung plus künstlerischer Aussage", wie er es auf eine kurze Formel brachte. Die von Flaherty und anderen freigelegten Quellen müssten zu einem kraftvollen Strom formal anspruchsvoller und inhaltlich wertvoller Filme anschwellen, um „gegen die Hochflut kultureller Verflachung" anzukommen.

 

Vieles, was Wolf Hart über Flaherty sagte, galt auch für ihn selber: In der „kommerziell verseuchten Filmindustrie" fehlte es an Zeit und Geld für den Kulturfilm. Hart hat sich in allen Genres erprobt, er hat sogar kurze Spielfilme gemacht. Bei einer Retrospektive aus Anlass seines 60. Geburtstages in der Landesbildstelle Hamburg im Juni I97I wurde auf die Breite seines Schaffens und die große Zahl seiner Produktionen verwiesen, aber mit einer ,,leisen Bitterkeit" musste er auch feststellen, dass die „wirklich großen Stoffe, die wirklich großen Aufgaben fehlten und fehlen". So wie Flaherty als 64-Jähriger noch im Auftrag eines Erdölkonzerns die „Louisiana Story" herstellen konnte, hoffte Hart auf die „große Chance", damit ihn spätere Filmhistoriker zur Kenntnis nehmen.

 

Der ganz große Wurf ist Wolf Hart nicht vergönnt gewesen. Aber wer heute sein Werk betrachtet, ist aufs Höchste beeindruckt von seiner Schaffenskraft und seinen filmischen Ansprüchen, denen er mit einer ausgesprochen künstlerischen Ader und einer große Liebe für den Menschen gerecht geworden ist. Er hat viel gewagt und dabei einen würdigen Platz in der Filmgeschichte gewonnen. Für künftige Filmhistoriker ist es von Vorteil, dass ein großer Teil des Nachlasses nun in Hamburg, an dem wichtigsten Ort seiner Filmarbeit, zugänglich ist.

 

Seine Filmlaufbahn begann für Wolf Hart im Sommer I933 in Freiburg als 2. Kamera-Assistent bei Sepp Allgeier. Die Terra-Film hatte ihn für Dreharbeiten zum „Springer von Pontresina" engagiert, wenn er seine Handkamera zur Verfügung stellt; pro Tag gab es ein Honorar von 12,50 Reichsmark. Er bekam ein gutes Zeugnis (er verrate „große Begabung"), und nach zwei Jahren war er bereits als I. Kameramann tätig. Seine ersten eigenen Filme entstanden 1938/39 in Hamburg („Hafen") und Freiburg („Wer hat Angst vorm schwarzen Mann"). Danach ging er nach Berlin und kam bei derTobis bzw. der UFA als Regisseur für mehrere Filme unter Vertrag.

 

Das Kriegsende sah ihn in Freiburg, wo er 1945 die erste Drehlizenz in der Französischen Besatzungszone erhielt; dort gründete er 1948 seine Produktionsfirma „Hart-Film", die er I953 nach Hamburg verlagerte. Hier wurden nun alle seiner Filme geschaffen: Viele beschäftigten sich mit Hamburg und anderen norddeutschen Themen, immer wieder zog es ihn aber auch in den Südwesten, vor allem nach Freiburg und Karlsruhe, wo eindrucksvolle Städteporträts entstanden. Es gab kaum einen Film, der nicht höchste Prädikate sowie wertvolle Preise und Anerkennungen verliehen bekam.

 

Neben der Filmarbeit griff Hart immer wieder zum Pinsel: Er betrachtete seine Malerei nicht als Ablenkung, sondern als wichtige Ergänzung zur „technischen" Bildgestaltung mit der Kamera. Auch Fotobände gab er heraus. 1988 zog er sich vom Filmgeschäft zurück; er siedelte mit seiner Frau Helga ins Voralpenland nach Fischbachau zu Füßen des Wendelsteins um und genoss einen ruhigen Lebensabend. Im Alter von 91 Jahren starb er dort am 5. Juli 2002.

 

Es kann nicht Aufgabe dieses Berichts sein, einen vollständigen Überblick zum Filmschaffen Wolf Harts zu geben. Hier harrt eine wichtige Aufgabe für Filmhistoriken die nicht nur eine Einzelleistung, vom Umfang und von der Qualität her; zu würdigen hätten, sondern auch der deutschen Variante des Dokumentarfilms, dem künstlerischen Kulturfilm Gerechtigkeit und Anerkennung verschaffen würden. Hier können nur einige Beispiele herausgenommen werden; dabei soll es nicht nur um Höhepunkte in seinem Oevre gehen, sondern auch um die Vielfalt seiner Arbeit.

 

Eine von ihm Mitte der 70er Jahre selbst zusammengestellte Filmographie umfasst etwa 50 Titel, wobei einige davon Varianten desselben Themas sind. Darüber hinaus wird vermutet, dass für weitere Titel vor allem aus der Frühzeit seine Mitwirkung (Regie bzw. Kamera) nachgewiesen werden könnte. Im Hamburger Landesfilmarchiv bzw. beim Verein Film- und Fernsehmuseum Hamburg sind Kopien von fast allen Titeln vorhanden; es fehlen einige Varianten (z.B. Kurzfassungen) sowie die geringe Zahl von Beiträgen für das Fernsehen; einige Titel mit baden-württembergischen Themen sind im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart zu finden. Im Filmarchiv des Bundesarchivs in Berlin sind von 17 Titeln die Negative vorhanden.

 

Bei der 1971 von der Landesbildstelle Hamburg veranstalteten Rückschau greift Wolf Hart vier Filme aus seinem Werk heraus, nicht weil er sie für besonders herausragend hält, sondern weil er mit ihnen ,,unvergessliche Erlebnisse" verbindet. Wenn sie auch hier näher betrachtet werden, so deswegen, weil dabei seine Arbeitsweise besonders gut dargestellt werden kann:

 

  • „Der Landbriefträger" (1941) zeigt, wie im Hochschwarzwald auf Skiern die Post ausgetragen wird. W i r werden durch eine wundervolle und friedliche Winterlandschaft gefahren und bewundern eine Montage, die uns abwechselnd bergab rasen und an Aussichtspunkten verweilen lässt. Viel Zeit hat sich Wolf Hart genommen: In vier Wochen war das Drehbuch fertig, fünf Monate hat dann die Herstellung gebraucht
  • „Dämmerung über dem Teufelsmoor" (1943): Kein Naturfilm, sondern das Porträt eines alten Torfstechers, der von seinem Beruf nicht lassen will, obwohl ihn Familie und Freund davon abbringen wollen. Die ruhige und geduldige Darstellung führt uns zum Respekt vor dem Menschen, der an seiner Tradition festhält.
  • „Der Strom führt Eis" (1954/55) ist in zwei Wintern an der Elbe entstanden, eine harte Arbeit bei eisigem Nordost; oft musste Wolf Hart allein mit seiner Frau ausharren, unterstützt von einem Helfer für das schwere Gepäck.
  • „Bauhütte 63" (1961-63): Die Dokumentation der Restaurationsarbeiten am Freiburger Münster wurde zu einem eigenen Kunstwerk, dank optischer Phantasie, wunderschöner Bilder; ausgewählter Orgelmusik-Begleitung; ein gesprochener Kommentar erübrigte sich fast. Fast zwei Jahre hatten sich die Dreharbeiten hoch über den Dächern der Altstadt von Freiburg hingezogen.

 

Wolf Harts Hamburg-Filme sind Hafenfilme; das war schon 1938 so (s.o.), das galt auch für die 1950- und 1960er Jahre. Selbstverständlich suchte er sich seine eigenen Themen, die den Hafen als menschliches Kunstwerk erleben ließen: Die Schlepper und ihre Besatzungen gestaltete er als „Artisten des Hafens" (1955), die in ihrer Manege Wunderdinge vollbringen. Wie eine Sinfonie (obwohl ohne Musik) erklingt der „Hafenrhythmus" (i960), komponiert aus Bewegungen und Farben. Selbst ein Auftragsfilm der Hamburger Hafen- und Lagerhaus AG über ihren „Kaischuppen 76" (1961) führt bei Alt-Bekanntem zu neuen Einblicken. Einen besonderen Reiz hat das „Buddelschiff (1959), das alte Seebären zum Anlass nehmen, über ihre großen Fahrten zu berichten.

 

Ein anderer Ort hat ihn ebenfalls häufig beschäftigt: Badens Hauptstadt Karlsruhe. Nach der „Stadt im Umbruch" (19660/61), einem Überblick aus dem Hubschrauben folgte der „Lebenslauf einer Stadt" (1964/65) in den letzten 250 Jahren; als nächstes kam „Bilanz einer Stadt" (1970) über den Wiederaufbau nach dem Krieg; als letzter in dieser Serie erschien „Ein Fächer wird aufgeschlagen" (1981), ein typisches Stadt-Feuilleton. Auch die Raffinerie bei Karlsruhe hat er zweimal filmisch dargestellt, 1963/64 und 1971/72.

 

Bei aller Ablehnung des Lehrfilms hat sich Wolf Hart auch am Unterrichtsfilm als Motivationsmedium versucht: Für das Institut für Film und Bild, dem Medieninstitut der Länden produzierte er sehr einfühlsame Filme, die weniger Information als Empathie für ein Thema oder eine Aufgabe vermittelten: Da gibt es die „Gemeindeschwester Anne" (1950), deren Beruf mehr Aufopferung fordert als Anerkennung bringt; „Blinde finden ihren Weg" (1953) ist eine Überarbeitung des Films „Das Leben in uns", der die berufliche Integration blinder Menschen behandelt. Weitere Themen waren der „Nord-Ostsee-Kanal" (1959) und die „Hallig" (1965). Sogar für die Bundeswehr machte er einen amüsanten Werbefilm in einer Zeit, in der die Zahlen der Wehrdienstverweigerer hochschnellten: „Sag mir wie man Betten baut" (1973).

 

Nun jedoch zu einigen besonderen Glanzpunkten im Filmschaffen Wolf Harts: Filme, die ihm höchstes Lob eingebracht haben und die ihm selber sehr am Herzen lagen. Sie stammen alle aus den 1950er Jahren, als allerdings durch das aufkommende Fernsehen die Film- und Kinolandschaft in Deutschland beträchtlichen Veränderungen unterworfen wurde. In den zeitweiligen Niedergang des Films wurde auch der deutsche Kulturfilm hineingerissen. Um so höher sind die Leistungen Wolf Harts zu veranschlagen. Er bescheinigte seinem langjährigen Freund Georg Ramcke, dem Betreiber des Liliencron-Kinos in Hamburg-Groß Flottbek, großen Mut, dass er 1959 fünf seiner Filme zu einer Matinee zusammenfasste, darunter „Regen", „Abseits" und „Kleine Weltentdeckung".

 

In seiner Einführung zum Programm erläuterte Hart seine Arbeitsweise und wehrte sich gegen Vorwürfe, die „Poesie im Alltäglichen und Unbeachteten" aufzuzeigen und damit zur „Verfremdung" der Realität beizutragen. Dagegen hielt er seine Methode, „mit wachen Augen das Leben zu beobachten und das Beobachtete und Erlebte intensiv zu verarbeiten". Als seinen Standpunkt führte er an: „Zuviel ist selten an einem Film gearbeitet worden, zu wenig aber häufig."

 

Bei aller Unterschiedlichkeit der drei genannten Filme haben sie doch eines gemeinsam: Aus Impressionen wird eine Atmosphäre komponiert, so dass Natur und Mensch in ihrer surrealen „Wirklichkeit" erscheinen. Hart schuf aus Bewegungen und Klängen eine Filmsprache, die weltweit Anerkennung fand. „Regen" wurde 1957 in Mannheim als „bester deutscher Kulturfilm" ausgezeichnet und lief auch auf Festivals in Edinburgh und Montevideo. Die Betrachtungen eines Nordsee-Watts in „Abseits" (1958) überschritten die Grenze zum Experimentalfilm, wenn Wasser und Sand zur Musik sich bewegen und sich aus dem Malerischen eine großartig-abstrakte Geometrik entwickelt. Dieser Film erhielt ebenfalls Anerkennungen auf Festivals in Brüssel, San Sebastian, Bergamo, Wien und Montevideo.

 

Auch die „Kleine Weltentdeckung durch Sabinchen" (1957/58) errang internationale Preise in Paris, Edinburgh, Venedig und Montevideo: Wolf und Helga Hart hatten einen Tag im Leben ihrer dreijährigen Tochter aus der Perspektive des Kindes vorgeführt und damit den Erwachsenen eine andere Welt erschlossen. Die urwüchsige Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind wird auf kunstvolle und vergnügliche Weise so verdichtet, dass sie zeitlos wirkt.

 

Zum Schluss noch einige Bemerkungen zu Wolf Harts wenigen Ausflügen in das Gebiet des Spielfilms: Ganz fremd ist dem Kulturfilmer das Arrangement seiner Darsteller nie gewesen; bei ihm können sie sich jedoch selber darstellen und müssen nicht vordergründig agieren. Am besten gelingt es ihm, wenn er wie gewohnt auf Sprache verzichten kann: „Ein Mann, der schreiben wollte" (1968) zeigt Günther Jerschke unter der Maske des Bösen, wie er verzweifelt versucht, im Kampf gegen die Tücken des Alltags ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Es ist eine amüsante Parabel auf die Widrigkeiten, die dem Künstler entgegenarbeiten. Der Alleinunterhalter kann natürlich auf Dialoge verzichten.

 

Das ging offensichtlich nicht bei dem ersten deutschen „Aufklärungsfilm", mit dessen Hilfe der Hamburger Filmproduzent Walter Koppel 1962 vergeblich seinen Firmenverbund von Realfilm und Europa-Filmverleih vor dem Ruin zu bewahren suchte. Nach der Vorlage reißerischer Reportagen in „Bild am Sonntag" sollte unter dem Titel „Hütet eure Töchter!" ein dokumentarischer Spielfilm in sieben Episoden entstehen. Die Regisseure hatten bei den Themen freie Wahl, gleich dreimal wurde die „verführte Unschuld" als Mahnung mit erhobenem Zeigefinger vorgeführt. Wolf Hart steuerte unter dem Titel „Inge" die Geschichte einer Tochter aus besserem Hause bei, die - vorbereitet von der Reizüberflutung durch die Medien - auf einer wilden Party den Verführungskünsten eines üblen Burschen erliegt. Im inneren Monolog des von der Polizei alarmierten Vaters werden von allgemeiner Gefährdung der Jugend bis hin zu den elterlichen Erziehungsproblemen alle einschlägigen Themen abgehandelt. Auch die Dialoge haben eher demonstrativen Charakter; als dass sie mit den wirklichen Problemen Jugendlicher etwas zu tun hätten. Es ist schwer vorstellbar; dass Wolf Hart mit dem Ergebnis sehr zufrieden gewesen ist.

 

Dieser misslungene Ausflug auf fremdes Terrain offenbart nur um so deutlicher; dass Wolf Harts eigentliche Domäne der durchgestaltete „Kulturfilm" war Er verlangte von sich Kunstwerke, und war in der Lage, gerade sie zu schaffen. Er schuf Gemälde, die Kamera war ihm Pinsel, die Montage der Rahmen. Seinen Zuschauern bot er einen ungewöhnlichen und vergnüglichen Blick auf die Welt und die Menschen. Hinter dieser Leistung verbirgt sich mehr Zeit und Geld, als sie heute zur Verfügung stehen. Dem schöpferischen Geheimnis des deutschen Kulturfilms, der in den 1960er Jahren der allgemeine Verpönung verfiel, am Beispiel Wolf Harts auf die Spur zu kommen, wäre eine lohnende Aufgabe.