Sammlungen

Der Pilotton: eine Hamburger Erstgeburt

Spurensuche im Medienkeller

Von Carsten Diercks

„Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen."

Johann Wolfgang von Goethe

 

Vor einiger Zeit schenkte mir ein Kollege ein Buch, von dem ich schon viel gehört hatte: „Der Dokumentarfilm seit 1960" von Wilhelm Roth (Verlag C. J. Bucher, 1982). In einigen Zeitungen sei es – so sagte man mir nach seinem Erscheinen – anerkennend rezensiert worden. Die Lektüre geriet für mich indes zum Ärgernis. Schon im Klappentext heißt es, sachlich einleuchtend, aber nach meinem Gedächtnis - was den Zeitpunkt betrifft - völlig an den Tatsachen vorbei: „Die Zeit um 1960 war die entscheidende Zäsur in der Geschichte des Dokumentarfilms. Die damals neuentwickelte Technik der leichten Handkamera mit Originalton ermöglichte dem Genre eine Spontaneität, die vorher undenkbar war. Der sprechende Mensch rückte in den Mittelpunkt, wurde sein 'Star'. Die Dokumentaristen konnten nun alltägliche Ereignisse beobachten, aber auch länger dauernde Prozesse. Der Dokumentarfilm wurde zur Chronik der laufenden Ereignisse."

 

Schon früher war mir immer wieder aufgefallen, wie in der gesamten angloamerikanischen Fachliteratur der in den USA arbeitende Richard Leacock, ehemals Kameramann bei Robert Flaherty (u.a. „Louisana Story") und dann eigenständiger Filmemacher als Schöpfer des „Direct Cinema" und Pate des „Cinema Verite" gefeiert wurde. Selbst mein eigener Sender, der NDR, war diesen historischen Fehlinterpretationen immer wieder aufgesessen. Bei verschiedenen Gelegenheiten, wo historische Rückblicke der Fernsehfilmgeschichte behandelt wurden, hat man aus mir unverständlichen Gründen immer die Interpretation der falschen Darstellung aus dem genannten Buch von Wilhelm Roth übernommen, statt sich selber durch eigene Recherchen schlau zu machen. Einfach schlampig recherchiert! Hier ein Beispiel: Im Herbst 1990 brachte das Fernsehprogramm NDR 3 den 1960 anläßlich des amerikanischen Vorwahlkampfes vom US-Filmemacher Richard Leacock gedrehten Film „Primary". In der NDR-Ansage zum Film heißt es u.a: „...1960 verfolgte Leacock die Kandidaten Kennedy und Humphrey. Sein Werk wurde bahnbrechend für die Filmund Fernsehreportage. Zum ersten Mal konnten sich die Filmemacher mit mobiler Kamera und Ton frei bewegen. Hautnah verfolgten sie die Kandidaten mit Mikrophon und Kamera ...!"

 

Wieder einmal war die alte Legende aufgewärmt worden - in diversen Büchern der anglo-amerikanischen Fachliteratur ungezählte Male beschrieben, in dem zitierten Standardwerk von Wilhelm Roth ungeprüft übernommen.

 

Der NDR, mein eigener Sender, sollte es eigentlich besser wissen, denn bereits im Januar 1984 hatte die NDRHauszeitung in ihrer Nr. 40 die ausführliche historische Richtigstellung und den wahren Ablauf in den stürmischen Anfangsjahren des Fernseh-Dokumentarismus gebracht: „Der Pilot-Ton - eine Hamburger Erstgeburt!"

 

Die von der NDR-Produktionsdirektion herausgegebene Informationsbroschüre „Information-Produktion Hörfunk und Fernsehen" hatte in Nr. 12, November 1984, in Fortführung dieses Themas einen weiteren ausführlichen Beitrag gedruckt und nachgewiesen, daß die von Leacock ab 1960 angewandte „bahnbrechende neue Technik von beweglicher Kamera und lippensynchronem Ton" bereits sechs Jahre zuvor beim damaligen NWDR in Hamburg-Lokstedt mit Erfolg angewendet wurde und von hieraus sich weltweit ausbreitete. Aber: „Was gilt der Prophet schon im eigenen Lande?", weiß bereits die Bibel - oder zitieren wir besser Wilhelm Busch: „Kaum findet mal einer ein bißl was - gleich gibt es weiche, die ärgert das!"

 

Veröffentlichungen über die Frühzeit der deutschen Nachkriegs-Femsehentwicklung sind spärlich genug. Die Bibliographie von W. Roth's „Der Dokumentarfilm seit 1960" macht einen nicht klüger. Warum hatte er die englischsprachigen Quellen ungeprüft übernommen?

 

Ich war neugierig geworden. Jetzt wollte ich es wissen! Was sagen die Dokumente über die Baby-Jahre des neuen Mediums Fernsehen über die Anfänge des Dokumentarismus? - Also ein paar Stunden lang auf Spurensuche im Keller unserer NDR-Bibliothek. Meter um Meter, bis unter die Decke gestapelt, die Regale „Medienkunde": Film, Rundfunk und Fernsehen, mit 35 Unterabteilungen von „Anekdoten" bis „Zuschauerforschung". Nach langem Suchen auf wackliger Leiter schließlich die „Geschichte Deutsches Fernsehen", drei mehr als bescheidene, schmale Werke zur Historie des jungen Mediums. Aber was in den ersten Jahren der deutschen Fernsehentwicklung auf dem Sektor „Filmdokumentationen" geschah, scheint sich darin mit Martin S. Svoboda und dem Aufbau seiner „Tagesschau" zu erschöpfen.

 

Keinerlei Hinweise auf die Pionierarbeit, die vom damaligen NWDR, dem Vorläufer des NDR, während der Aufbauzeit gerade beim Dokumentarfilm geleistet wurde. Für einen Augenzeugen der stürmischen Gründerjahre eine schmerzliche Erkenntnis, zumal in Hamburg alles bereits 1953 begann, also sieben Jahre, bevor Richard Leacock über die neue Technik verfügte, die ihm „Spontaneität ermöglichte, die vorher undenkbar war", wie es bei Roth geschrieben steht. Aber diese Spontaneität hatte es damals in Hamburg Jahre zuvor doch auch gegeben!

 

Hohe Zeit also, so meine ich, 45 Jahre nach diesen Anfängen die Historie endlich einmal zurechtzurücken und an die Schrittmacherrolle zu erinnern, die das Fernsehstudio Hamburg gespielt hat. Von hieraus ging die „entfesselte Kamera" auf ihren späteren Erfolgskurs und beeinflußte vom Frühjahr 1954 an stilprägend alle folgenden Dokumentationen und Features von ARD, ZDF, aber auch internationaler Fernsehorganisationen.

 

Im Dezember 1953 sind in Deutschland erst 10.000 Fernsehgeräte registriert. Von Presse und Öffentlichkeit nicht bemerkt, war zu diesem Zeitpunkt in dem gerade eingeweihten Studio Lokstedt und im RTI, dem „Rundfunktechnischen Zentralinstitut an der Rothenbaumchaussee, in aller Stille das „Pilot-Ton-Verfahren", also die lippensynchrone Koppelung einer handlichen kleinen Filmkamera mit einem tragbaren Tonbandgerät, dem MAIHAK-Recorder MMK3, vorbereitet worden.

 

Der damalige erste Fernsehintendant, Dr. Werner Pleister, durfte davon nichts erfahren. „Fernsehen bedeutet, live dabei sein", hatte er stolz in seiner Eröffnungsansprache am 23. Oktober 1953 seinen Programm-Mitarbeitern erklärt. „Wenn wir wirklich einmal auf die Konserve Film zurückgreifen müssen, soll das für uns die Wochenschau in der Heilwigstraße tun!" So war folgerichtig im neuen Studio Lokstedt kein einziger Raum für Filmkamera, für Schneide- und Bearbeitungsmöglichkeiten von Filmmaterial vorgesehen.

 

Doch der Technische Leiter der jungen Fernsehabteilung, Adalbert Lohmann - früher Siemens-Klangfilm-Ingenieur - hatte ein Hobby, und das war der 16mm-Film, damals noch geringschätzig „Schmalspur" genannt. Die „Neue Deutsche Wochenschau", Martin S. Svoboda und natürlich die Tagesschau-Cutterinnen hatten den „Amateurfilm" 16mm, wie er von der Fachwelt übereinstimmend abgewertet wurde, als für das Fernsehen ungeeignet abgelehnt.

 

Es grenzte also fast an eine Verschwörung, unter dieser Voraussetzung die erste Fernseh-Auslandsexpedition zu planen und sich dabei der überhaupt nicht erprobten neuen 16mm-Film-Pilotton-Technik zu bedienen.

 

Die „Femseh-Notiz", der Informationsdienst des damaligen NWDR-Fernsehfunks, meldet am 13. Januar 1954: „Die Reporter Hans-Joachim Reiche, Peter Coulmas und Kameramann Carsten Diercks vom NWDR-Femsehen werden Ende Januar eine Afrika-Expedition machen. Sie werden den ersten großen Femseh-Auslandsbericht aufnehmen. Die Stationen ihrer Flugreise sind Brüssel, Tripolis und Leopoldville. In Leopoldville - einige hundert Kilometer südlich des Äquators am Ufer des Kongo-Flusses - beginnt die eigentliche Expedition. Sie wird von dort über Elisabethville, Bukavu, am Tanganyika-See entlang, durch Ruanda-Urundi bis Stanleyville führen. Es wird dort viel Interessantes zu sehen sein. In Belgisch-Kongo findet man neben afrikanischem Buschleben moderne Industrialisierung. Das Filmmaterial wird täglich nach Hamburg geflogen, um es vor Klimaeinflüssen und Bakterienschaden zu bewahren."

 

Als wir am 21. Januar 1954 um 13.55 Uhr die Sabena-Maschine nach Brüssel besteigen wollen, um von dort in den zentralafrikanischen Busch weiterzufliegen, ist die Pilot-Einrichtung an Kamera und Tongerät buchstäblich in letzter Minute installiert worden. Der Technische Leiter Lohmann und sein Mitarbeiter Udo Stepputat drücken mir an der Gangway das MMK 3 in die Hand, dazu ein Bündel Kabel und einen Zettel, welcher Stecker wo hineingehört. Zeit für einen Test war vor dem Abflug nicht mehr geblieben.

 

Nach 36 Stunden, einer mondhellen Nacht und einem sonnenüberfluteten Tag mit Zwischenlandungen in Madrid, Casablanca und Kano am Südrand der Sahara, neigt sich der Bug der Maschine das letzte Mal nach unten. Leopoldville!

 

Sobald die Kabinentür aufgeht, schlägt uns ein Gluthauch entgegen: 43° im Schatten! Wenige Stunden vorher in Europa zeigte das Thermometer noch -14°- Der Temperaturunterschied lähmt auf der Stelle und läßt uns fast ersticken. Das also sind die Tropen. Es scheint unvorstellbar, hier jemals arbeiten zu können. Nun, nach dem ersten Schock habe ich dann die Zähne zusammengebissen. Fünf lange Wochen in der Backofenhitze und immer ganz auf mich allein gestellt mit Kamera und Tongerät. Am 24. Januar 1954 abends schreibe ich todmüde in das Tagebuch: „Dieser glühend heiße afrikanische Januartag wird wohl zum denkwürdigen Datum in der Geschichte der Filmdokumentation: Kein aktuelles Ereignis, kein politisches Geschehen bestimmt diesen Tag. Vielmehr ist es eine kleine technische Sensation, die Aufsehen erregen wird. Zum erstenmal machte ich mit einem eigens für diese Reise konstruierten Tonfilm-Gerät eine 'pilot-synchrone' Filmaufnahme."

 

Das wird dem Laien nicht viel sagen. Für uns „Leute vom Bau" jedoch war es ein großes Ereignis. Ich konnte eine neue Technik erproben, die mit geringstem Aufwand und einer Apparatur von kaum 11 kg Gewicht hochwertige, lippensynchrone Film-Ton-Aufnahmen ermöglicht. Endlich war damit mein Traum, spontane Dokumentationen drehen zu können, erfüllt.

 

Diese Fernseh-Geschichte machenden Aufnahmen filmte ich mit Pauline, einer farbigen Radioansagerin in Zentralamerika, die sich auch als Sängerin bereits einen Namen gemacht hatte. Mit einem zärtlichen Abendlied war Pauline, fast 10.000 km von Hamburg entfernt, für alle Welt sichtbar zum Sinnbild in der jungen Fernsehentwicklung avanciert, zum Dokument einer jetzt einsetzenden neuen Phase des Dokumentarfilms.

 

Ich habe oft an diesen Tag zurückgedacht und meine, der NDR darf sich gerade im Zeichen der aufgekommenen Medienkonkurrenz mit Stolz der Rolle als Wegbereiter erinnern, die er in der Pionierzeit des Fernsehens spielen konnte. Wenn wir die Dokumente jener Tage nicht rechtzeitig aus dem Staub der Archive heben, werden die wahren Ereignisse falsch dargestellt oder bald ganz vergessen sein. Sollte das eingangs zitierte Goethe-Wort etwa auch für unsere eigene, die Mediengeschichte gelten?

 

Übrigens: Am 31.3.1954 wurde Folge 1 von „Musuri - Es geht aufwärts am Kongo" ausgestrahlt. Ein bis dahin nicht gekannter Erfolg für einen Dokumentarfilm. „Die 'entfesselte Kamera' ist gesellschaftsfähig geworden", schrieb eine Fachillustrierte. Der damals gerade aufkommende Infratest-Index meldete eine Zuschauerzustimmung von +9. Das höchste bis dahin ermittelte Ergebnis.

 

Jetzt wollte plötzlich jeder mit der neuen Technik arbeiten. Auch die „Tagesschau" begann zu diskutieren, ob man sich nicht mit dem 16mm-Film beschäftigen müsse.

 

Am schnellsten reagierten die wachen Kollegen vom NWDR-Studio Berlin, dem späteren SFB. Unter der Leitung von Heinz Riek machten Günter Piechow und Herbert Victor bereits wenige Wochen später die ersten eigenen Experimente mit dem völlig neue Dimensionen erschließenden Aufnahmeverfahren. Sie riefen mich nach der Sendung zu Hause an: „Mensch, wie hast Du das bloß gemacht?" - Am nächsten Tag bereits waren sie in Hamburg und ließen sich von der Zentraltechnik an der Rothenbaumchaussee die gleichen Zusatzgeräte für ihre eigene Ausrüstung bauen.

 

Der 'Pfiff' des Pilot-Tons beruhte auf einer Erfindung des Münchner Ingenieurs Josef Schürer, der beim Bayerischen Rundfunk als Entwicklungsingenieur arbeitete. Der Bayerische Rundfunk konnte mit der Erfindung aber noch nichts anfangen, da er in der Entwicklung seiner Fernsehabteilung noch weit zurücklag und er zum Fernsehprogramm noch keine Beiträge lieferte. So kam der Ingenieur Schürer mehrfach nach Hamburg, um beim NWDR seine bahnbrechende Erfindung in die Praxis umzusetzen. Die Zentraltechnik des NWDR unter dem Oberingenieur Gondesen und dem Technischen Leiter des Fernsehens, Herrn Adalbert Lohmann halfen ihm nach besten Kräften dabei.

 

In diesen Zusammenhang muß auch erwähnt werden, daß es noch keine Möglichkeit gab, den Pilot-Ton synchron auf einem Bearbeitungsgerät zu schneiden. Der NWDR machte einen kleinen Hinterhofbetrieb - eine 6-Mann-Werkstatt „Steenbeck" ausfindig, die bereit war, den Prototyp eines Schneidetisches zu bauen. Die Pläne dazu hatte ein Herr Gäde geliefert, der früher einmal Chef-Cutter bei der UFA in Berlin gewesen war.

 

Dieser Schneidetisch war wirklich fertig, als wir aus dem Kongo zurückkehrten. Er war aber noch mit der perforierten Tonspur des Normalfilms, also 17,5 mm wie beim Normalfilm, ausgerüstet. Beim Schneiden eines Films ein lästiges Manko, das erst abgestellt wurde, als einige Monate später die 16mm-perforierten Tonbänder auf den Markt kamen. Der 16mm-"Gerula"-Filmschneidetisch konnte sich aber zunächst nicht durchsetzen, weil die „Tagesschau" sich sträubte, den 16mm-Film als vollwertig anzuerkennen.

 

Eine Versammlung der im Hause beschäftigten Cutter und Cutterinnen hatte einstimmig beschlossen, den „Amateurfilm 16mm" als für Fernsehzwecke absolut ungeeignet abzulehnen. „Das ist ja 'Augenpulver'", meinte die damalige Chef-Cutterin. „Da muß Svoboda [der Chef der „Tagesschau"] über meine Leiche gehen, wenn er das hier im Betrieb durchsetzen will."

 

Der Cutter Gäde sah keine Zukunft für seinen Schneidetisch, in dessen Entwicklung er sein ganzes Geld gesteckt hatte. Er machte seinem Leben ein Ende. Aber nur wenige Monate später zeigte sich dann, daß er zu früh aufgegeben hatte. Bei „Steenbeck" gingen die ersten Anschlussaufträge ein und die Firma entwickelte sich zu einem Großbetrieb mit weltweiter Reputation, der sie bis zum Beginn des Video-Zeitalters, also 25 Jahre lang, geblieben ist.

 

Viele Versuche in der Welt, die Qualität der „Steenbeck"-Geräte nachzubauen oder zu kopieren, scheiterten. Ob in den USA, im indischen Dschungel oder den Fernsehstudios im fernen Asien, in Singapur oder Hongkong - überall traf man in den Filmstudios der Fernsehgesellschaften auf „Steenbeck"-Geräte.

 

Ich selbst wirkte in der Dokumentarfilm-Produktion von 1954 - 1959, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem Richard Leacock mit einer „Prototyp-Ausrüstung" Wilhelm Roth's Dokumentarfilmbuch zufolge - der Durchbruch mit der „mobilen Apparatur, mit der man sich ohne Beschränkung bewegen konnte", gelang, an ca. 35 Dokumentarfilmen mit. Von einigen Städteportraits mit Jürgen Roland bis zur seither wohl mutigsten weltweiten Filmberichterstattung des Deutschen Fernsehens „Auf der Suche nach Frieden und Sicherheit" und „Pazifisches Tagebuch" (insgesamt 14 Folgen von 45 Minuten Länge, zusammen mit Rüdiger Proske und Max H. Rehbein, 1957).

 

Zwei Jahre später dann noch mit Peter Schmid die gleichfalls preisgekrönte 6-teilige Mittelamerika-Serie „Rebellen im Paradies". Es gibt wohl kaum ein ästhetisches Stilmittel des Dokumentarfilms, das nicht schon damals gesucht, erprobt und mit Erfolg angewendet wurde.

 

Wie durch ein Wunder sind - soweit ich schon vor vielen Jahren bei Stichproben feststellen konnte - alle genannten Sendungen im Fernsehfilm-Archiv noch zu finden. Und sie haben tatsächlich die fast 50 Jahre ihrer Existenz relativ unbeschadet überstanden. Vielleicht ruft sie das Haus eines guten Tages durch eine Retrospektive in eigener Sache ins Gedächtnis zurück. Denn notabene: 1957 erreichte die Zahl der zugelassenen Fernsehempfänger gerade die Millionengrenze. Ob auch darin ein Grund siegt, daß die bahnbrechenden Entwicklungen der ersten Stunde, die von Hamburg ausgingen, kaum in das öffentliche Bewußtsein drangen und daher heute fast vergessen sind'?

 

Die Universität Marburg hat im Auftrage der Deutschen Forschungsgesellschaft seit dem Jahre 1992 die Frühgeschichte des Deutschen Fernsehdokumentarismus untersucht und hat seither in lobenswerten Bemühungen besonders von Herrn Dr. Peter Zimmermann dafür gesorgt, daß die Baby-Jahre des Fernseh-Dokumentarfilms seit ihren Anfängen im Jahre 1952, als in Deutschland gerade 10.000 Fernsehempfänger zugelassen waren (heutiger Stand 1998: über 30 Mio.), erforscht und festgeschrieben wurden. In der Buchreihe „Close Up" - Verlag Ölschläger, München - sind seither fünf Bände in der Reihe erschienen. (Band 1, 1992- „Fernseh-Dokumentarismus - Bilanz und Perspektiven", Herausgeber: Peter Zimmermann).

 

Und noch ein Phänomen jener Jahre sollte angesprochen werden, um Historiker, die sich mit der Fernseh-Frühgeschichte befassen, auf Widersprüche aufmerksam zu machen, die sich aus dem Studium der Unterlagen und Überbleibsel, besonders aber der kritischen Bemerkungen aus jenen Baby-Jahren ergeben könnten.

 

Es gab bereits in den 50er Jahren eine starke Lobby, die gegen die Ausbreitung des jungen Mediums Fernsehen operierte. Das war zunächst die Spielfilm-Industrie, die fürchten mußte, daß mit Ausbreitung des Fernsehkonsums die Kinos im Lande das Nachsehen hätten und auf lange Sicht gesehen in den Ruin getrieben würden.

 

Aber nach ein paar Jahren wurde sichtbar, daß die Spielfilm-Produzenten im Gegensatz zu ihren Befürchtungen Nutznießer des jungen Fernsehens werden konnten. Je größer die Etats der Fernsehanstalten wuchsen, um so mehr Aufträge gingen an die etablierte Filmindustrie. Die Rivalität erledigte sich schnell, und clevere Filmproduzenten sprangen bald auf den neuen Dampfer.

 

Anders dagegen reagierten die Printmedien. Klugen Verlagsmanagern schwante, daß ihre Werbeetats schrumpfen würden, wenn erst einmal das Werbefernsehen in Deutschland Fuß gefasst hätte. In den USA hatte diese Entwicklung längst eingesetzt und man beschloß, die Ausbreitung des Fernsehens in Deutschland zu verzögern, so gut es eben ging.

 

Und ein Weg dazu war, die Programm-Mitarbeiter des Fernsehens zu verunsichern. In einigen großen Tages- und Wochenzeitungen, die Programmkritiken schrieben, wurden gute Sendungen grundsätzlich schlecht und schlechte Sendungen gut besprochen.

 

Diese Kritiken wurden bei uns in den Redaktionen in Lokstedt druckfrisch herumgereicht und sorgten für erhebliche Verunsicherung. Niemand wusste mehr, wohin der Weg ging! Was war nun gut, was eigentlich schlecht?!

 

Da die „Hierarchen", also die Chefetage, wiederum vor den Verwaltungs- und Aufsichtsratsgremien zitterten, die ihnen diese Kritiken um die Ohren schlugen, war Unsicherheit und Verwirrung auf der ganzen Linie im ganzen Hause angesagt. Das Schlimme an der Sache ist, daß dieses Manko sich bis zum heutigen Tage auswirkt. Filmhistoriker - und ich habe auf einigen Universitäten mit ihnen über dieses Problem gesprochen - stützen sich in ihren Analysen und Wertungen oft auf diese Archiv-Informationen und kommen naturgemäß häufig zu völlig falschen Schlüssen, was damals eigentlich gesendet wurde. Um so wichtiger wäre, daß die Fernsehanstalten ihre Archive, soweit die Materialien noch vorhanden sind, öffnen würden, um sie der Öffentlichkeit heute noch zugänglich zu machen, so daß die Historiker sich über die Qualität dieser alten Sendungen, die ja inzwischen über 50 Jahre in den Archiven geschmort haben, selbst ein Bild machen können.

 

Später, Anfang der 60er Jahre, begannen dann die Dokumentarfilmer der 2. Generation mit ihren Experimenten, von denen - wie eingangs erwähnt Wilhelm Roth euphorisch schreibt: „Eine neue Form des filmischen Journalismus entstand. Nach dem Vorbild Richard Leacocks konnten sich die Filmemacher mit mobiler Kamera frei bewegen ...".

 

Das ist natürlich Unsinn, denn diese neue Art, Filme zu machen, war schon 10 Jahre zuvor durch die neue Pilot-Tontechnik im NWDR geschaffen worden. In der Rückschau auf die Bemühungen der 2. Generation der Filmemacher Anfang der 60er Jahre muß ich heute sagen, daß wir sie damals gar nicht zur Kenntnis genommen haben. Der Stil schien uns unprofessionell, unnötig zerdehnt und dem zahlenden Normalfernsehzuschauer nicht zumutbar. Nun, die jungen Filmemacher zogen dessen ungeachtet mit ihren Produkten in das Oberhausener und Mannheimer Walhalla ein, wie Rüdiger Proske ganz in meinem Sinne einmal schrieb. Aber so spielt eben das Leben!

 

Jetzt aber noch die Moral aus diesem Ausflug in den Medienkeller eilfertigen Verfassern deutscher Film- und Fernseh-Historie ins Stammbuch geschrieben: Was hatte sich eigentlich auf internationaler Ebene abgespielt, bevor die neue bewegliche Tonfilmtechnik 16mm auch bei den mächtigen amerikanischen TV-Networks Fuß faßte und sich damit weltweit durchsetzen konnte? Gehen wir wieder auf Spurensuche. Die Fährte führt erneut eindeutig nach Hamburg ins Fernsehstudio Lokstedt. Und das kam so:

 

Am 17. April 1961 landen in der „Schweinebucht" an Cubas Südküste, von der US-Navy kräftig unterstützt, einige hundert Exil-Cubaner, um in einem verzweifelten Versuch das gerade erst zwei Jahre etablierte Revolutionsregime Fidel Castros zu stürzen. Für den NWDR, damals noch, wie selbstverständlich die ARD-"Feuerwehr", saß ich bereits fünf Stunden, nachdem die Ereignisse durch die Radio-Frühnachrichten bekannt wurden, zusammen mit Bernt Engelmann im Flugzeug nach New York. „Fliegen Sie so schnell es geht," hatte der Intendant Dr. Walter Hilpert Order gegeben, als ich ihn frühmorgens kurz nach 6 Uhr in seiner Wohnung aus dem Schlaf klingelte. Ja, so machte man das damals, Regelwerk anno 1961! Aktuell waren wir in Hamburg allemal.

 

Unser kleines Team - als Assistent für Kamera und Ton reiste Gerhard Niveademski mit - erreichte, trotz gesperrter cubanischer Flughäfen, die Hauptstadt Havanna in einer Sondermaschine des cubanischen Außenministers Raul Rao gerade noch zur rechten Zeit, und wir erwiesen uns schnell als einzige auswärtige Reporter, die eine Dokumentation über die Ereignisse auf der zum Schlachtfeld gewordenen Karibik-Insel zustande brachten. Nur wenige Monate zuvor noch war ich für die Serie „Rebellen im Paradies" auf der Zuckerinsel gewesen und hatte jetzt mächtige Freunde aus der Umgebung Fidel Castros wiedergetroffen. Wir erfreuten uns auch eines Empfehlungsschreibens Raul Raos, das sich als „Sesam-öffne-Dich"-Papier erwies und vor den Verfolgungen der Geheimpolizei schützte. Alle anderen Berichterstatter hatte der tobende, aufs äußerste gereizte Diktator Castro ins Gefängnis sperren lassen. Amerikanische Journalisten waren in den ersten Wirren als angebliche Spione erschossen worden.

 

Der US-Fernsehgesellschaft CBS war zu Ohren gekommen, daß nur ein Team aus Lokstedt in Havanna arbeiten durfte. Bevor ich mit dem Film – und Tonmaterial unter abenteuerlichen Umständen nach Hamburg zurückkehrte, hatte CBS bereits drei Mitarbeiter von New York nach Hamburg-Fuhlsbüttel einfliegen lassen und sich beim NWDR die Lizenz-Rechte unserer Ausbeute gesichert. In wenigen Stunden waren sämtliche Rollen Bild und Ton kopiert und von den CBS-Kollegen mit meiner Hilfe und der Unterstützung der Technik unseres Hauses zu einer 60'-Sondersendung zusammengestellt. Kaum einen Tag später hatte CBS das Programm bereits über sein riesiges TV-Network einem Millionen-Publikum in den USA vorgestellt. Ein sensationeller Erfolg! CBS hatte ihre großen Konkurrenten NBC und ABC um Längen geschlagen.

 

Unser eigenes NWDR-Sonderprogramm erschien erst 10 Tage später auf den deutschen Bildschirmen: „Cuba Libre - Triumph eines Träumers?" (Sendung: 24.5.1961, 60 Min.) Wir waren mit Schnitt und Produktion zwar nicht weniger schnell gewesen als die cleveren Kollegen aus New York, bekamen aber keinen früheren Termin! Das Thema erschien der ARD weniger brennend als den unmittelbar betroffenen Amerikanern.

 

Das CBS-Team mit dem quirligen Mr. Silverman als Leiter hatte bis dahin für Synchronaufnahmen nur den in Amerika üblichen „kombinierten Lichtton" oder aber bestenfalls die kombinierte magnetische Randspur gekannt. Sie erzählten, wie in ihrer Station damals Filme noch altmodisch mit der „Moviola" geschnitten wurden, einer ratternden, lärmenden Schneidevorrichtung, mehr Marterwerkzeug für empfindliches Filmmaterial als schonendes Bearbeitungsgerät.

 

Mir war schon Jahre zuvor bei einem mehrwöchigen Amerika-Aufenthalt aufgefallen, auf welch geringem Niveau sich im Vergleich zu unserem Standard im Fernsehen der ARD die US-okumentationssendungen bewegten. Die Kollegen erhielten also in Hamburg, wie sie gern zugaben, ihr „Aha-Erlebnis". Sie waren vom deutschen Niveau der Filmberichterstattung überrascht und fasziniert.

 

So also gelangte die neue Technik - zumindest wie in diesem Beispiel auf dem Fernsehsektor der USFernsehgesellschaft CBS - über den Großen Teich. Aber das geschah nicht von West nach Ost, aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zum vermeintlich technisch entwicklungsbedürftigen deutschen Fernsehen - wie man aus W. Roth's Buch „Der Dokumentarfilm seit 1960" folgern muß -, sondern in genau umgekehrter Richtung.

 

Nach NDR-Vorbild setzte sich das fortschrittliche Verfahren sehr schnell auch in den USA durch. Und so schließe ich diesen Ausflug der Spurensuche deutscher Mediengeschichte wiederum mit einem Goethe-Wort in einer - man verzeihe mir – geringfügigen Abwand: „Wahrhaftig, Du hast recht! Mein Hamburg lob ich mir!".