Sammlungen

Von Zahnheilkundlern und Kinematographen:

Die Familie und ihr Kino in Eppendorf

Von Heiner Ross und Volker Reismann

Leiter der Kinemathek Hamburg und des Metropolis-Kinos zu sein und gleichzeitig aktives Mitglied in der evangelischen St.-Markus-Kirchengemeinde in Eppendorf sind eigentlich ganz unterschiedliche Aufgaben, die aber doch gelegentlich auch einmal gemeinsame Berührungspunkte aufweisen. So führte mich beim ersten Treffen der Geschäftsleute und Nachbarn in Hoheluft, die eine engere Stadtteilarbeit anstrebten und dabei auch die Kirchengemeinde einschließen wollten, der Hauptpastor zu dem im Stadtteil Eppendorf bekannten Zahnarzt Wilhelm Arthur Abel. Dieser meinte, er hätte schon gehört, dass ich „etwas von Film und Kino“ verstünde. Dann teilte er überraschend mit, er habe in einem Keller im Eppendorfer Weg noch einige Nitrofilmkopien, wobei die älteste wohl von 1910 sei! Das machte neugierig, denn eine solche Information erreicht einen schließlich nicht alle Tage! So wurde gleich ein ausführliches Gespräch mit einer anschließenden Besichtigung der Filmkopien vereinbart.

 

Herr Abel öffnete dabei seine „Schatzkammer“ im Keller – denn anders waren die Hinterlassenschaften aus der Frühzeit des Kinos in seinem Keller nicht zu bezeichnen. Fast jede Büchse war - in unterschiedlichen Stadien - verrostet, aber immerhin waren die Beschriftungen noch leidlich erkennbar: „Hochzeit“, 1 Akt (ca. 8 bis 10 Minuten Länge - diesen und die anderen Filme datierte Herr Abel ungefähr auf das Jahr 1910!), „Das Boxtraining“, 1 Akt, (rund 8 Minuten). „Der Hammelfuß“, 1 Akt (mindestens 10 Minuten - an diesen Film erinnerte sich Herr Abel noch lebhaft, denn er hatte ihn - wie auch die anderen Filme – als Kind sogar im eigenen Heimkino gesehen), „Columbus“, 2 Akte (ca. 18 Minuten – hatte die Fantasie von Herrn Abel als Kind mächtig beflügelt!).

 

Der Großvater Wilhelm Abels, der Zahnarzt wurde, nachdem er zunächst als Bader gearbeitet hatte, eröffnete 1910 in der Eppendorfer Landstraße 26, ein Kinematographen-Theater. Es sollte einen Nebenverdienst erzielen und im ersten Stock auch noch die Wohnung der Familie Abel beherbergen. Die Großmutter musste das Kino nach dem überraschenden Tod ihres Mannes im gleichen Jahr weiterführen. Sie hob diese Filmkopien auf, wohl weil die Lizenzzeit abgelaufen war und sich die Verleiher nicht mehr für sie interessierten. Möglicherweise aber sind die Filmkopien sogar noch älteren Datums (was nach ihrer Umkopierung auf Sicherheitsfilm erforscht werden müsste), denn es könnte auch sein, dass diese frühen Filme käuflich – sozusagen auf Lebensdauer – zur Vorführung erworben wurden.

 

Die großmütterliche Familie Abel jedenfalls besaß einen 35mm-Heimfilm-Projektor. Diesen, wie auch die Filmkopien, hatten sie auf ihrem Wochenendgrundstück außerhalb Hamburgs gelagert. Hier überlebten die Filme und der Projektor die Bombenangriffe auf Hamburg im Juli 1943, als auch die Kirche St. Markus und das elegante Wohnhaus ganz nahe der Kirche im Eppendorfer Weg, zerstört wurden.

 

Im Wochenendhaus lagerte auch der Spielfilm „Kehre zurück! Alles vergeben“, 7 Akte (Deutschland 1929, Regie Erich Schönfelder. Buch: Viktor Abel, Karl Ritter. Uraufführung: 6.9.1929, Marmorhaus, Berlin. Musik: Werner Schmidt-Boelcke). In dieser Groteske gerät Gina, ein Sportmädel von heute, mit ihrem Vater, dem Kommerzienrat Tieck, aneinander, als sie ihren Liebsten heiraten will und nicht den Kandidaten, den ihr Vater vorgesehen hat. Erich Schönfelder war ein Trivial-Film-Regisseur, von dem jedoch bisher kein Film erhalten schien – bis zu jenem Zufallsfund im Keller Abel, wo der Film wie ein Wunder die Zeiten überlebt hat.

 

Noch wird es etwas dauern, bis das Bundesarchiv/Filmarchiv diese Nitrokopie auf Sicherheitsfilm umkopiert und so der Kinemathek Hamburg zugänglich machen kann. Vielleicht wird das Bundesarchiv/Filmarchiv aber schon vorab einen Videotransfer vornehmen, der dann natürlich „feierlich“ von uns gemeinsam präsentiert werden wird – selbstverständlich im METROPOLIS-Kino. Einige sehr kurze „Panoramen“, die sich bei den Werken befanden, wollte das Bundesarchiv/Filmarchiv nicht übernehmen - sie befinden sich jetzt im Österreichischen Filmarchiv in Wien.

 

Dort war man über diesen Fund ganz begeistert! Doch nicht nur diese frühen Werke lagerten dort, sondern auch zwei Dokumentarfilme aus den USA: „Ein Kind zog aus“ (USA 1940, Lichtton, deutsche Fassung, Regie: Joseph Losey, Musik: Hanns Eisler, 10 Minuten) und „Das Tennessee-Tal“ (USA 1944, Lichtton, deutsche Fassung, Regie: Alexander Hamid, a.k.a. Hackenschmied) - beides übrigens Werke des „Reeducation-by-Film“, die ab 1945 dann für die „Umerziehung zur Demokratie“ verwendet wurden.

 

Ein geplantes ausführliches Interview mit Herrn Abel zu der Frage, warum seine Familie, die eigentlich seit Generationen aus Zahnheilkundlern bestand, nun ausgerechnet in jener Zeit ein eigenes Kino gegründet habe, konnte nicht mehr wie geplant realisiert werden, da Wilhelm Abel überraschend am 16. Dezember 2002 verstarb. In der Folgezeit übergab schließlich seine Witwe auf Anraten der Kinemathek Hamburg e.V. dem Staatsarchiv die Familienpapiere, mit deren Fakten man die Entwicklung dieses Kinobetriebes rekonstruieren kann: Demzufolge wurde Julius Karl Wilhelm Abel, der Großvater von Wilhelm Arthur Abel, am 12. Juni 1863 in dem damals noch beiderstädtischen, d.h. abwechselnd von Hamburg und Lübeck, regierten Bergedorf geboren. Am 21. April 1890 bekam er die Zulassung des Medicinal-Collegiums als „geprüfter Heildiener“, nach der er seine „Befähigung erwiesen im Bluteinziehen, Setzen von Fontanellen und Klystieren, Oeffnen von Abscessen, Legen von Blasenpflastern, Verbinden einfacher Wunden, Assistenz bei Operationen und Wiederbelebungsversuchen.“ Ein Dreivierteljahr später, Mitte Januar 1891, meldete er bei der Polizeibehörde als Gewerbe eine Drogisten-Tätigkeit an, für die „Anfertigung und den Verkauf von Utensilien und Präparaten für Zahnärzte und Techniker“. Im gleichen Monat zog er mit seiner Frau Amanda Dorette Friedericke, geb. Kohrs, vom Herrengraben in die Nähe des neuen Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf in der Martinistraße um; die offizielle Ummeldung datiert allerdings erst aus dem Jahre 1903. Später zog er in eine Parterrewohnung in der Kremperstraße 11. Am 19. Oktober 1900 legte er den Hamburgischen Bürgereid ab. Am 16. November 1891 wurde sein Sohn Hellmuth Abel geboren, der von 1906 bis 1909 ebenfalls eine Lehre als Zahntechniker bei der „Zahnkünstlerinnung zu Hamburg“ absolvierte, genauso wie dessen Sohn Wilhelm Arthur Abel, der 1927 geboren wurde. Julius Karl Wilhelm Abel verstarb am 28. September 1910.

 

Knapp ein halbes Jahr vorher, am 24. Februar 1910, hatte er im Bezirksbüro Eppendorf der Polizeibehörde Hamburg, Abt. III (Gewerbe- und Verkehrspolizei), einen Antrag auf Einrichtung eines Lokals „zur Vorführung kinematographischer Bilder“ gestellt. Dieses sollte auf einem Grundstück an der Eppendorfer Landstraße Nr. 26 eingerichtet werden. Die Gegend war für eine solche Lokalität sehr günstig und versprach sichere Einnahmen. Ganz in der Nähe hatte die Straßenbahngesellschaft ihre Werkstätten eingerichtet und in den neu angelegten Falkenried-Terrassen ihre Arbeiter mit Familien untergebracht. Es war ein aufstrebender Stadtteil; hier konnte ein Nachbarschaftskino das Bedürfnis nach Abwechslung, Unterhaltung und Information direkt erfüllen.

 


In ihrem Bescheid vom 4. April 1910 verlangte die Polizeibehörde, dass für „die Vorführung lebender Photographien die Anlagen und Einrichtungen sowie der beabsichtigte Betrieb den ordnungs-, sicherheits- und gesundheitspolizeilichen Anforderungen“ entsprechen. Für den etwa 100 Quadratmeter kleinen Kinosaal wurden maximal 180 Personen als Zuschauer zugelassen. Vorgeschrieben waren auch „unverrückbar mit dem Fußboden verbundene Klappsitzplätze, die je mindestens 50 cm Sitzbreite und 80 cm Abstand von Lehne zur Lehne“ haben sollten. Stehplätze waren nicht zugelassen. Vorgeschrieben war auch eine Notbeleuchtung, die Lampen über den Ausgängen sollten rot leuchten. Nur im winzigen Vorführraum war das Rauchen untersagt.

 

Ob es für Wilhelm Abel mehr war als nur eine günstige Kapitalanlage, ob also den 46-Jährigen eine Leidenschaft für das „neue Medium“ Film gepackt hatte und er sich den Traum eines eigenen Programms erfüllen wollte, ist nicht überliefert. Immerhin zeigte er sich daran interessiert, auch Kindern und Jugendlichen den Besuch seines Kinos zu ermöglichen. Auf entsprechende Anfrage wurde er noch im März 1910 gegen eine monatliche Gebühr von 2 Mark Mitglied des Hamburger Lokal-Verbandes der Kinematographen-Besitzer. Nur als solches Mitglied war es ihm gestattet, auch unter 15-Jährigen ohne Begleitung Erwachsener Filme zu zeigen, die von der Oberschulbehörde zugelassen waren. Dort hatte sich schon 1907 eine Kommission von engagierten Lehrern zusammengefunden, die für junge Leute geeignete Filme auswählte und Schulvorführungen organisierte.

 

Offensichtlich gab es aber mit der Einrichtung des Kinobetriebes Schwierigkeiten; auch der plötzliche Tod von Julius Karl Wilhelm Abel am 27. September 1910 dürfte die Aufnahme des Spielbetriebes verzögert haben. Der eingereichte und erhaltene Ausstattungsplan für das Kino wurde erst am 31. Dezember 1910 abschließend genehmigt. Handschriftlich wurde nachgetragen, dass nunmehr nur noch 146 Plätze zugelassen waren.

 

Überraschend ist die Enge des ganzen „Theaters“: Gleich neben der Pendel-Eingangstür befand sich die Kasse, direkt daneben die Leinwand und nur 1,39 Meter weiter die erste von insgesamt 18 Stuhlreihen. Man saß dicht gedrängt. Auch wenn zu vermuten ist, dass das Kassenhäuschen durch seitliche Holzwände vom Saal abgeschirmt war, muss der Kassierer oder die Kassiererin den Spielbetrieb direkt mitbekommen haben. Für den Ausgang war eine weitere Doppelpendeltür an der anderen Seite der Leinwand vorgesehen. An der Rückseite befand sich der Notausgang zum Hof.

 

An einer Längsseite war Platz gelassen für ein „Instrument“ – vermutlich eine kleine Kinoorgel – sowie zwei winzige Örtlichkeiten für „Herren“ und „Damen“. Der Projektionsraum hatte nur einen direkten Zugang vom Hof, da ein ursprünglich geplanter Zugang vom Zuschauerraum aus feuerpolizeilichen Gründen nicht genehmigt wurde. Der Projektionsraum maß nur 2,90 x 3,0 Meter; vorgesehen waren zwei Projektionsfenster, allerdings war nur ein Kohlebogen-Projektor eingezeichnet. Hier wurden sicher auch die leicht entzündlichen Nitrofilme des jeweiligen Programms aufbewahrt. Rauchen war hier streng untersagt. So mancher Kinobrand hatte vom Projektionsraum seinen Ausgang genommen.

 

Der ganze Saal maß nur 6,50 Meter in der Breite und 15,50 Meter in der Länge. Es war also alles in einem ein regelrechtes Flohkino. Wenn die Plätze ausverkauft waren, saß man sehr eng beieinander. Manche machten sich Sorgen um die schlechte Luft, andere fürchteten um die Moral im dunklen Raum. Es wird aber immer eine gute Stimmung geherrscht haben, wenn man lauthals die Stummfilme kommentierte. Wann genau der reguläre Spielbetrieb aufgenommen werden konnte, lässt sich aus den Unterlagen leider nicht belegen.

 

Erhalten ist jedoch noch ein Antrag der „Inhaberin eines Kinematographentheaters“, der verwitweten Amanda Abel vom 29. Februar 1912, in ihrem Kino Kindervorstellungen zeigen zu dürfen. Bereits einen Tag später hat die Polizeibehörde ihre „jederzeit widerrufliche Erlaubnis“ erteilt. Erstmals wird hier der Name „Union-Theater“ aufgeführt. Unter den Bedingungen ist festgelegt, dass für „Kindervorstellungen spätestens 3 Tage vorher ein genaues Programm in doppelter Ausfertigung der Gewerbepolizei vorzulegen“ sei, wobei peinlichst genau eine Auflistung der Bezeichnung der einzelnen Filme „unter Hinzufügung der Fabrik“ (heute würde man von Filmverleih oder Produktionsfirma sprechen) vorgeschrieben war. Das eine Exemplar war abgestempelt zurückgeben und musste am Tage der jeweiligen Vorstellung an der Kasse für den Fall der Kontrolle bereit gehalten werden. Offensichtlich reichte die Mitgliedschaft im Lokal-Verband nicht mehr aus.

 

Alles in allem steht die aus der detaillierten Bauzeichnung ablesbare Ausgestaltung dieses für die Zeit typischen Ladenkinos exemplarisch für die ersten „ortsfesten“ Kinos in den 1900er und 1910er Jahren. In den Anfangsjahren waren die Begriffe „Kientopp“ oder „Theater lebender Photographien“ weit verbreitet. Der ab 1913 verwendete Name „Union Theater“ steht offenbar in Zusammenhang mit dem am 30. März 1871 geborenen, ostpreußischen Kaufmannssohn Paul Davidson, der seine berufliche Karriere als Gardinenreisender begann und später zu einem wichtigen Wegbereiter der Ufa wurde. Davidson hatte von 1906 bis 1914 ein Kinoimperium von 56 Lichtspieltheatern in Deutschland aufgebaut, die später auch als „U.T.“-Theater firmierten. Wie jedoch die genauen „Franchise“-Bedingungen für Kinobetreiber wie die Abels aussahen, lässt sich aufgrund der spärlichen Materiallage nicht rekonstruieren. Auch Fotos aus dieser Zeit sind bedauerlicherweise nicht mehr erhalten.

 

Zudem lässt sich der Zeitpunkt, wann die Kinovorführungen genau mangels Rentabilität eingestellt wurden, nicht mehr genau feststellen, da das Kinoprogramm in keiner Zeitung abgedruckt, sondern nur durch Plakataushang bekannt gegeben wurde. Im „Hamburger Adressbuch“ von 1916 findet sich noch folgender Eintrag unter Eppendorfer Landstraße 26: „H.A. Pohlmann, Lichtspiele“. Offenbar hatte die Familie Abel das Kino schon weiterverpachtet. 1927 war dann im Adressbuch eine „Tischlerei Ebeloe“ unter der Adresse eingetragen und ein aus den 1930er Jahren datierendes Foto lässt deutlich erkennen, dass sich eine Wäscherei namens „Dunkelmann“ in dem kleinen, von zwei großen Wohnblöcken eingerahmten Gebäude befand. In den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges wurde dann nicht nur das Haus der Abels, sondern auch fast die komplette umliegende Bebauung zerstört.

 

Als Fazit lässt sich zusammenfassen, dass die überlieferten Dokumente, die als Familiennachlass inzwischen dem Hamburger Staatsarchiv übergeben wurden, ein interessantes – wenngleich auch unvollständiges – Abbild aus der Frühzeit ortsfester Kinos (von denen es 40 im Jahre 1910 in Hamburg gab!) geben. Sie dokumentieren das Stadium zwischen dem Jahrmarktsvergnügen und den Traumpalästen der späten 1920er Jahre und zeigen, mit welchen Mühen der Siegeszug des neuen Mediums Film in den Anfängen verbunden war.