Sammlungen

Ein Welterfolg aus Hamburg

Über die 16mm-Schneidetische der Firma Steenbeck

Von Carsten Diercks

„Neben der Kamera und den Entwicklungs- und Kopiermaschinen ist der Schneidetisch eine der wichtigsten Bearbeitungsgeräte bei der Herstellung von Filmen." Das schreibt Diplom-Ingenieur Günter Bevie. Er ist der Schöpfer und Konstrukteur der Steenbeck-Filmschneidetische. Günter Bevier gilt in der Fachwelt als weltweit erfolgreichster Konstrukteur von Schneidetischen. Bevier wurde von der Kinotechnischen Gesellschaft für seine Verdienste als jahrelanger Chefkonstrukteur bei der Firma Steenbeck & Co mit der Oskar-Messter-Medaille ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung, die für Arbeiten im filmtechnischen Bereich verliehen wird.

 

Ohne diesen Tisch, vor allem für das Filmformat 16mm, wäre der erfolgreiche Aufstieg weltweiter Filmberichterstattung des Fernsehens, die uns die Welt in die Stube brachte, wären das „Direct Cinema" der USA oder das „Cinema verite" der Franzosen nicht denkbar gewesen.

 

Das „Fenster zur Welt" öffnete sich im Jahre 1953, und die Wiege dieser Entwicklung stand in Hamburg. Von hier aus hat sich diese neue Technik über die ganze Welt verbreitet. In New York, Buenos Aires, Hongkong, Tokio, Singapur oder im indischen Subkontinent, überall in den Fernsehstudios traf man auf Steenbeck-Geräte. Ort dieser bewunderten Entwicklung war eine kleine, mechanische Werkstatt in Hamburg-Wandsbek, die anfangs nur sechs Facharbeiter beschäftigte.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt, Ende des Jahres 1953, hatte es in Deutschland nur Schneidetische im kommerziellen Format 35mm für Spielfilm, Kulturfilm und die aktuellen Berichte der Wochenschauen gegeben. Da war zunächst der UFA-Tisch. Diese Weltfirma in Spielfilmproduktion baute ihre Tische in eigenen Werkstätten, fast nur für den eigenen Bedarf. Die andere Produktionsfirma war die UNION-Film in Berlin, die in den 1930er Jahren weitgehend den Markt beherrschte. Die Firma Siemens erzielte mit ihrer Tochter Klangfilm hohes Ansehen im Bau von Kameras, Filmprojektoren, Filmbearbeitungsgeräten, Ton-Kameras und auch Schneidetischen. Last but not least stellte auch Arnold und Richter (ARRI) in München in kleinem Umfang Filmschneidetische im 35mm Format her.

 

Schlagartig wurde im Jahre 1953 durch den „Pilot-Ton" eine Entwicklung eingeleitet, die ihren Ursprung in Hamburg hatte und nicht, wie oft in Fachbüchern geschrieben, in den USA errungen wurde. Es ging um den 16mm Film, von der Fachwelt und „Profis" als Amateurfilm oder Schmalspur verspottet. Von der gesamten Branche war der 16mm-Film für Fernsehzwecke als absolut unbrauchbar deklassiert worden. Die Skepsis gegen den 16mm-Film basierte vorwiegend auf einem Gutachten, das der damalige (erste) Chef der Tagesschau, Martin S. Svoboda, auf Anordnung der Technik sehen Direktion des NWDR, dem Vorgänger des NDR, angefertigt hatte. Svoboda, gelernter Jurist, der sich als Journalist bei der Springer-Zeitung „Die Welt" Grundkenntnisse erworben hatte, war technisch ein Laie. Er verließ sich bei seiner Beurteilung auf die Stellungnahme seines Chefkameramannes Jan Thilo Haux. Durch dessen Arbeit mit der Neuen Deutschen Wochenschau war er auf den Profi-Film 35mm festgelegt. Die Chefcutterin der „Tagesschau" hatte auch jahrelang bei der „Wochenschau" gearbeitet. Sie lehnte den 16mm-Film ab. „Das ist ja Augenpulver und unzumutbar."

 

In einigen Fachzeitungen hatte ich aber gelesen, dass sich in den USA bei den großen Fernsehgesellschaften NBC, CBS, ABC, etc. der 16mm-Film bereits in den 1940er Jahren durchgesetzt hatte. Aber die hiesigen Fachleute der Filmbranche, die alle vom Spielfilm oder den aktuellen Wochenschauen kamen, wollten diese Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen. Sie bestanden weiter auf Normal-Kinofilm 35mm und Martin S. Svoboda schloss sich dieser Meinung an.

 

Die Erfindung des „Pilot-Tones“ durch den Entwicklungsingenieur des Bayerischen Rundfunks, josef Schurer, brachte endlich Bewegung in diese starre Front der Ablehnung. Den ersten Versuch, auch praktische Erfahungen mit dieser neuen Technik zu sammeln, machte ich selbst. Dabei darf nicht vergessen werden, dass in den Anfangsjahren des Fernsehens der Film als künstlerisches Ausdrucksmittel verpönt war.

 

Noch hatte niemand erkannt, welche Bedeutung der Film bekommen würde. Der erste Intendant des NWDR-Fernsehens, Dr. Werner Pfleister, hatte in seiner Ansprache zur Einweihung des Fernseh-Studios Hamburg-Lokstedt am 23.0ktober 1953 erklärt: „Fernsehen, das bedeutet Jive' dabei sein. Wenn wir wirklich in unseren täglichen Programmen einmal auf die Konserve Film zurückgreifen müssen, soll das für uns die .Neue Deutsche Wochenschau' in der Heilwigstraße erledigen. Wir wollen immer aktuell sein, mit der elektronischen Kamera am Ort des Geschehens. Film ist Konserve und daher immer abgestanden und von gestern."

 

Trotz dieses Vorbehaltes kam der Afrika-Film „Musuri" zustande. Dank dem damaligen Generaldirektor des NWDR, Dr. h.c Adolf Grimme, Dr. Werner Pleister war im Urlaub, als wir die Afrika-Einladung erhielten. Diese Expedition war die erste Dokumentation außerhalb Deutschlands und der Grenzen Europas. Die Idee kam von Hans Joachim Reiche, Reporter und späterem Chef der Tagesschau. Dazu kam Dr. Peter Coulmas, Afrika-Experte im Hörfunk. Beide hatten noch niemals für das Fernsehen gearbeitet. Im Dezember 1953 erhielten wir die Einladung zum Flug nach Zentral-Afrika in den Kongo. Unbemerkt von Presse und Öffentlichkeit war im RTI, dem zum NWDR gehörenden Rundfunktechnischen Zentralinstitut, in aller Stille das „Pilotton-Verfahren" vorbereitet worden. Dabei handelte es sich um eine lippensynchrone Koppelung der gerade auf den Markt gekommenen handlichen 16mm Filmkamera der Firma Arnold & Richter in München, der ARRIFLEX und einem tragbaren Tonbandgerät der Hamburger Firma MAIHAK. Dieses kleine, kaum 5 kg wiegende, hochwertige Tonbandgerät war vom Ingenieur Gondesen vom RTI entwickelt und von einer fachfremden Firma gebaut worden, die eigentlich ärztliche Geräte herstellte.

 

„Ich werde dafür sorgen, dass die Geräte vor Ihrem Abflug am 21. Januar 1954 einsatzbereit und getestet sind", versprach Adalbert Lohmann, der technische Leiter des NWDR-Fernsehens. Als wir um 13Uhr am Flugplatz Fuhlsbüttel die Zollkontrolle passierten, hatte ich das Gerät noch immer nicht. In letzter Minute brachten mir Lohmann und Udo Stepputat, ein enger Mitarbeiter, das MMK 3-Gerät. Zeit für einen Test der Apparaturen gab es nicht mehr. In den Tagen der Reise-Vorbereitung hatten wir aber bereits die Frage diskutiert, wie das Bild- und Tonmaterial nach der Rückkehr sendefertig bearbeitet werden sollte.

 

Lohmann und Stepputat hatten erfahren, dass die kleine Werkstatt Steenbeck Pläne verfolgte, einen 16mm Filmschneidetisch zu bauen. Die Anregung dazu hatte ein Mitarbeiter der Firma, Horst Gäde, gegeben. Früher war er bei der UFA in Berlin als Cutter beschäftigt. Gäde hatte, wie er mir erzählte, einige der berühmten Filme von Leni Riefenstahl geschnitten.

 

Bisher war die Firma Steenbeck in der Fachwelt dadurch bekannt, dass sie sich auf die Fertigung von Einzelteilen für 35mm Tische spezialisiert hatte, die sie dann an die etablierten Produzenten verkaufte. Günter Bevier, Konstrukteur bei Steenbeck, förderte Horst Gäde und gab weitere technische Anregungen für den Bau eines ersten 16mm Schneidetisches. Lohmann erreichte es, dass dieses erste Muster rechtzeitig bereit stand, als wir aus Afrika mit 3.000m Film und 20 Tonbändern zurückkamen.

 

Bevor die technische Direktion den Steenbeck-Tisch kaufen sollte, gab es noch ein anderes Angebot. Amandus Keller aus Hamburg-Lokstedt hatte den 16mm Tisch „Cinette" gebaut. Bei einem durchgeführten Vergleich unterlag er dem Steenbeck-Tisch. Noch trug der Tisch den Namen „Gaerula", weil Gäde eigene Ideen in diese Konstruktion eingebracht hatte - eine faire Geste von Bevier. Mit diesem Gaerula-Tisch wurden von mir die beiden Afrika-Filme „Es geht aufwärts am Kongo - MUSURI" von je 45 Minuten Länge, Sendungen am 31. März und 7. April 1954, selbst geschnitten. Ich hatte damals keinerlei Erfahrung im Filmschnitt, aber die in der Tagesschau des NWDR beschäftigten Cutterinnen und Cutter lehnten es ab, mit dem „unzumutbaren, unhandlichen Material" zu arbeiten.

 

Die beiden Musuri-Filme wurden ein überwältigender Publikumserfolg. In der gerade eingerührten INFRATEST-Bewertung erhielten sie eine bis dahin noch nie erreichte Publikums-Zustimmung von +8 in einer Werteskala, die von -10 bis +10 reichte. Die Fachpresse war begeistert. „Die entfesselte Kamera ist gesellschaftsfähig geworden", schrieb ein renommiertes Fachblatt. Auch der Intendant Dr. Werner Pleister änderte plötzlich Meinung und Vorbehalte. Ich bekam grünes Licht, weiter zu experimentieren. Die Tagesschau blieb noch viele Monate bei ihrer Ablehnung. So gingen für den Gaerula-Tisch keine weiteren Aufträge ein. Horst Gäde sah keine Zukunft für das Gerät, in das er auch eigenes Geld gesteckt hatte - sein letztes! Zusammen mit seiner Frau nahm er sich das Leben. Er hatte zu früh resigniert.

 

Der Hessische, Süddeutsche, Südwest- und Bayerische Rundfunk schlössen sich mit dem NWDR zur ARD zusammen. Es entstanden eigene Filmabteilungen, deren Mitarbeiter alle zu mir nach Hamburg kamen, um sich meine Geräte-Ausstattunganzusehen. Dabei machten sie auch die Bekanntschaft mit dem Steenbeck-Schneidetisch, der in seiner Konstruktion durch Bevier entscheidend verbessert worden war. Jetzt wurde die Firma mit Aufträgen überhäuft. Peter von Zahn, Auslandskorrespondent in Amerika, orderte für sein Studio in den USA vier Tische.

 

Einige amerikanische Fernsehgesellschaften, die noch immer mit der veralteten Moviola arbeiteten, einem lärmenden, ratterndem Schneidegerät, wurden auf den deutschen Tisch aufmerksam. Der große Durchbruch für diesen 16mm Steenbeck-Tisch kam aber in den USA zu einem späteren Zeitpunkt.

 

Am 17. April 1961 landeten an der Südküste von Kuba, in der Schweinebucht, unterstützt von amerikanischen Kriegsschiffen, 900 Exil-Kubaner. Sie sollten das seit drei Jahren etablierte Revolutionsregime von Fidel Castro stürzen. Bereits sechs Stunden, nachdem ich um 6 Uhr in den Früh-Nachrichten die Meldung gehört hatte, saß ich im Flugzeug nach New York. Zusammen mit dem Spiegel-Reporter Bernt Engelmann und dem Kameramann Gerhard Nieviadornski wollte ich versuchen, nach Havanna, Kubas Hauptstadt, zu kommen. Tatsächlich erreichten wir Havanna in einer Sondermaschine des kubanischen Außenministers Raoul Rao.

 

Es stellte sich heraus, dass wir dass einzige westliche Team waren, das im Kriegsgebiet arbeiten konnte. Alle westlichen Journalisten waren schon im Gefängnis - einige sollen erschossen worden sein. Die US-Fernsehgesellschaft CBS hatte von uns erfahren. Bevor ich unter abenteuerlichen Umständen nach Hamburg zurückkehrte, hatte CBS bereits drei Mitarbeiter nach Hamburg einfliegen lassen. Beim NDR hatten sie sich das Copyright für diese Filmberichterstattung gesichert. Die Reporter Patrik Silverman, Bernhard Birnbaum und ein Techniker waren vom hohen technischen Standard unserer Ausrüstung so begeistert, dass sie 16mm Schneidetische orderten. Die Filmcutterin des NDR, Karin Erlebach, wurde abgeworben und nach New York geholt. So also kamen die neue Technik des Pilot-Tons und der fortschrittliche Steenbeck-Tisch nach Amerika.

 

Günter Bevier schreibt in seinen Erinnerungen, dass der Export in die USA beachtliche Ausmaße annahm. Aufträge aus aller Welt ließen Steenbeck zu einem Grossbetrieb werden. Es entstanden große Werkhallen. 50 Tische wurden jeden Monat gefertigt. Inzwischen hatte die Firma auch die Produktion von 35mm-Filmschneidetischen und eine Reihe anderer Geräte wie den Kobiton, ein 16mm-Filmbetrachtungsgerät aufgenommen. Insgesamt produzierte Steenbeck 38 verschiedene Geräte zur Filmbearbeitung. Seit in den 1980er Jahren die Video-Technik aufkam und den Film überall aus den Fernsehstudios verdrängte, begann es bei Steenbeck zu kriseln; die Nachfrage brach ein. Im Herbst 1999 ging die Firma in Konkurs, nach 45 Jahren erfolgreicher Existenz musste sie der modernen Technik ihren Tribut zollen.