Sammlungen

Gong, „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau“, Fanfare

Die ersten Jahre in Deutschlands renommiertester Nachrichtensendung

Von Werner Grassmann

Schon fast mit dem Beginn des Programms des Deutschen Fernsehens Ende 1952 gab es eine Tagesschau, die sich die deutschen Wochenschauen zum Vorbild nahm. Die Fernseh-Tagesschau war erheblich aktueller als die Kino-Wochenschau, denn sie erschien jede Woche dreimal und war fünf Minuten lang. Die Wochenschau gab es nur einmal in der Woche und sie war ca. zehn Minuten lang. Die Tagesschau hatte allerdings den gleichen Nachteil wie die Wochenschau: Sie berichtete nur über Ereignisse, die es auf Film gab.

 

Etwas übertrieben gesagt: Beim Tode z.B. eines Politikers hätte dieses Ereignis in der Fernseh-Tagesschau erst dann eine Erwähnung gefunden, wenn der entsprechende Film vorhanden gewesen wäre. Und dieses Problem war das größte Handicap der ersten Tagesschau. Wochenschau und Tagesschau hatten die gleichen Materiallieferanten, nämlich die Filmabteilungen der großen Nachrichten-Agenturen und dazu die Kamerateams der Wochenschaugesellschaften Fox, Ufa, Allianz und Neue Deutsche Wochenschau (produziert in Rahlstedt), und die waren eben nicht immer überall zur Stelle. Die Tagesschau-Redaktion selbst hatte anfangs kein eigenes Kamerateam zur Verfügung. Im Laufe der 1950er Jahre aber verbesserte sich die Zusammenarbeit mit den Fernsehabteilungen der Landesrundfunkanstalten und man konnte schon mal einen Extra-Beitrag bestellen. Diese Berichte wurden auf 16mm-SA/V-Negativfilm aufgenommen und dann per Luftfracht nach Hamburg geschickt. Es gab eine Spezial-Transportabteilung, welche die Filme vom Flughafen abholte und nach Ohlstedt ins Kopierwerk brachte. Dort wurden die Streifen entwickelt und eine Positiv-Kopie gezogen. Die ging dann sozusagen mit Blaulicht in die Tagesschau-Redaktion, die damals in der Heilwigstraße 116 saß.

 

In einem Schneideraum im Keller wurden alle eingehenden Filmchen gesichtet, ausgewählt und getextet. Gesendet wurde anfangs aus dem Sendezentrum des NWDR (Nord-West-Deutscher Rundfunk; den NDR gab es damals noch nicht) im Flakbunker auf dem Heiligengeistfeld. Die fertige Sendung musste also von der Heilwigstraße zum Heiligengeistfeld ins Sendezentrum gefahren werden. Dort saß der Tagesschau-Sprecher, meistens Kai-Dietrich Voß, der die Texte zu den einzelnen Filmbeiträgen ablas. Neben ihm ein Redakteur, der die Manuskripte vor der Sendung in die richtige Reihenfolge brachte und dem Sprecher das Einsatzzeichen gab. Zu sehen war der Sprecher also nie, ganz wie bei der Wochenschau. Sehen konnten die Tagesschau zunächst nur die Zuschauer in Norddeutschland. Bis nach Köln oder Berlin reichten die Richtfunkstrecken nicht. Mit der Post wurde die Tagesschau nach Köln, Frankfurt, München und Berlin geschickt und eben ein bisschen später gesendet. Mit dem zügigen Ausbau der Fernsehtechnik-Anlagen änderte sich das aber schon bald. Eine weitere Verbesserung war, dass die Filme vom Negativ gesendet werden konnten. Der Bildmischer drehte die Schwarz/Weiß-Werte einfach um und das Negativbild erschien als Positiv auf dem Bildschirm. Das ersparte die Positivkopie und brachte mindestens eine halbe Stunde Zeitgewinn.

 

Sehr ausführlich berichtet Horst Jaedicke, der erste Redakteur der Tagesschau, in seinem Buch „Tatort Tagesschau" über das Leben, Schreiben und Senden der Tagesschau von Anbeginn bis heute. Es erschien im vorigen Jahr zum fünfzigsten Geburtstag der Sendung. Die Mitglieder der Redaktion feierten übrigens im Herbst 2002 den Tagesschau-Geburtstag im Abaton-Kino. Alle waren da, von Horst Jaedicke bis Ulrich Wickert, von Johanna Riedel, der ersten Cutterin, bis zu Dagmar Berghoff. Was in dem sehr witzig geschriebenen Buch eigentlich fehlt, ist die Studio-Produktion der Tagesschau, für die eine ganze Menge Leute gearbeitet haben, von den Technikern, Grafikern, Kameraleuten mit ihren studentischen Kabelträgem, Beleuchtern. Maskenbildnern, Boten, Aufnahmeleitern und vielen, vielen Assistenten bis zu den Regisseuren, die letztendlich für die gelungene Sendung verantwortlich waren und einen Rüffel bekamen, wenn es eine Panne gegeben hatte.

 

Mein Tagesschau-Leben begann erst 1960. Die Sendung hatte sich weiter entwickelt. Die Filmbeiträge sollten ab 1960 durch einen Sprecher, der am Anfang der Sendung zu sehen war, ergänzt werden. Außerdem sendete man inzwischen täglich, sogar am Sonntag. Und einen kühnen Plan hatte man sich ausgedacht. Irgendein Programmdirektor hatte bei einem Besuch in Amerika dort die „News" gesehen und war begeistert. So was sollten wir in Deutschland auch haben, meinte er. Ich weiß nicht, wie viele Intendanten-Sitzungen der ARD es gegeben hat, bis man sich schließlich durchrang, eine deutsche Tagesschau wie eine amerikanische zu machen - Hans Scholz, ein Live-Regisseurdes WDR, wurde in die Nachrichten-Redaktionen der CBS und der NBC nach New York geschickt, um dort zu sehen und zu lernen, wie man eine schnelle und moderne Nachrichtensendung macht.

 

Er kam zurück nach Köln mit unglaublichen Vorschlägen, welche die Fernsehchefs wohl ziemlich irritiert haben. Doch schließlich war das Fazit vieler Kommissionssitzungen: „Wir machen eine neue deutsche Tagesschau, und zwar wie eine amerikanische." Hans Scholz kam nach Hamburg, um hier die alte Tagesschau nach seinen neuen Erkenntnissen umzubauen. Ich wurde ihm als Regisseur des Hamburger Studios zugeteilt, sozusagen als Verbindungsmann zur Sende-Technik. Ziemlich lange und oft hockten wir in den Studios und probierten alles mögliche aus. Das Hauptproblem war der Sprecherhintergrund. Meine Erfahrungen als Filmregisseur, der mit der Rückpro-Technik vertraut war, nutzten nur wenig. Mit den Ingenieuren und Bildtechnikern wurde schließlich eine Möglichkeit gefunden, Sprecher und Hintergrund ohne Licht- und Schärfenverlust herzustellen. Heute, im Zeitalter der Digitaltechnik, ist so etwas kein Problem mehr.

 

Auch die Auswahl der Sprecher war langwierig. Sie sollten ruhig wirken und den Text emotionslos vortragen. Kein Lächeln, kein Zwinkern, keine mokante Mundbewegung und keine geschürzten Lippen sollten die Nachrichten kommentieren, ironisieren, auf- oder abwerten. Das ist schwieriger als man sich das denken kann. Jedenfalls damals. Heute ist das für die Nachrichtensprecher bei allen deutschen Sendern eine lang geübte Selbstverständlichkeit. Zum emotionslosen Vorsprechen kamen Schauspieler, Radiosprecher, Radioreporter, Ansager von Modeschauen und Heimatabenden und natürlich viele Journalisten. Die Wahl fiel schließlich auf Karl-Heinz Kopeke und Dietherr von Salwitz, der kriegsversehrt war, sich nur schwer mit seinen Gehhilfen bewegen konnte, aber mit eisernem Willen seine Arbeit machte und sich nie etwas anmerken ließ, wenn er auf die Sprecherrampe steigen musste. Er flößte uns allen großen Respekt ein, und wir bewunderten seine eisernen Willen sehr.

 

Kompliziert war die Kleiderfrage. Die Kämeras waren zwar inzwischen, seit 1952, sehr viel lichtstärker geworden, aber sie reagierten auf kleingemusterte Jacketts oder Krawatten mit einem unangenehmen Flimmern, das sich manchmal auf das ganze Bild ausbreitete. Deswegen wurde eine strenge Kleiderordnung eingeführt und vor jeder Sendung eine Sitz- und Lichtprobe gemacht. Gelegentlich, aber eigentlich selten, mussten die Sprecher ihren Schlips oder die Jacke wechseln. Das war manchmal eine schwierige Aktion, wenn der betreffende Sprecher sich nun „extra" einen neuen Anzug gekauft hatte und das Fernsehen (in Wirklichkeit war ich gemeint, der Regisseur) das gute Stück nicht wollte und irgend ein „Lappen" aus dem Fundus angezogen werden musste. Der Wunsch nach Änderung der Kleidung musste sehr vorsichtig und diplomatisch vorgetragen werden, denn ein wegen der Kleiderordnung vergrätzter Sprecher ist nicht gut für die Sendung.

 

Ansonsten war das Tagesschau-Leben für mich erstaunlich gemütlich. Um 5 Uhr nachmittags fand (manchmal bei Kaffee und Kuchen) die Programmkonferenz statt. Die Redakteure referierten über Ereignisse des Tages und die Ergebnisse ihrer Recherchen, die Meldungen der Agenturen, Telefonate mit Politikern, Pressebüros, PR-Agenturen und Reportern anderer Fernsehanstalten. Der Tagesschau-Chef Joachim Reiche oder sein Stellvertreter Hartwig von Moulliard legten die Themen fest, und mit der Regie wurde Ablauf der Sendung bestimmt. Der nächste Schritt war die Beschaffung des Materials. Welche Filme gab es und woher kamen sie? Wie war die Transportsituation für das Filmmaterial wie sollte die Bearbeitung und wer machte sie? Welche Cutterin schnitt den Film und welcher Redakteur machte den Text? Gab es Ton? War brauchbar, wenn ja, wo wurde er überspielt? Wenn es keinen Ton gab, sollte der Film vertont werden? Mit Musik, Geräuschen oder Stimmen? Wann war der Ton für die Cutterin verfügbar, musste der Ton synchron angelegt werden oder genügte ein Geräuschteppich als Hintergrund? Gab es Fotos? Von welcher Agentur? Wo konnte man zusätzliches Hintergrundmaterial bekommen? Welche Archive kamen in Frage, war das Copyright geklärt? Internet gab es nicht, E-mail auch nicht, nicht einmal Fax kannte man.

 

Die Nachrichten kamen über einen laut klappernden Fernschreiber, der uns alle nervös machte und schließlich in einen Extra-Raum gestellt wurde, weil der Lärm viel lauter als der von einer normalen Schreibmaschine war und unerträglich für Redakteure und Sekretärinnen. Fotos wurden über Bildfunk in die Redaktion geschickt, oft in miserabler Qualität. Außerdem war die Grafik zuständig für die Herstellung von Landkarten, die fernsehgerecht aus Atlanten abgezeichnet wurden. Wichtig waren dabei nur Länderumrisse, die Lage der angesprochenen Orte oder Gegenden und eventuell Flüsse, um dem Zuschauer die Orientierung zu ermöglichen. Für den Grafiker malte der Redakteur seine Wünsche auf einen Zettel und der Grafiker machte danach auf einem Karton die Reinzeichnung, die oft nur aus wenigen Strichen bestand. Auch die Umsetzung von Statistiken in grafische Übersichten, um zum Beispiel Entwicklungen optisch darstellen zu können, war Sache der Grafik. Alles wurde auf Plakatkarton gezeichnet oder geklebt. Der Karton war nötig, weil im Sendestudio die Karten und Zeichnungen auf Staffeleien gestellt wurden. Während der Sendung fuhr die dafür eingeteilte Kamera vor die Staffelei, beim Stichwort wurde die Kamera eingeschaltet, das Bild in die Sendung eingeblendet und wieder ausgeblendet, wenn das nächste Stichwort kam. Für das Grafik-Programm war extra ein Mann eingeteilt, der nur für diesen Bereich verantwortlich war. Er musste dafür Sorge tragen, dass alles Grafikmaterial pünktlich im Studio war, die Staffeleien aufgebaut und an der richtigen Stelle standen und alles so sortiert war, dass die Reihenfolge stimmte. Anfangs wurden auch die Fotos auf Pappen geklebt und mussten an die richtige Stelle sortiert werden. Unaufmerksamkeit oder Schlendrian wären eine Katastrophe gewesen. Man stelle sich eine Meldung über ein Zugunglück in Indien vor und dazu gibt es ein Foto vom Karneval. Kompliziert wurde es, wenn mehrere Fotos und Grafiken hintereinander gesendet werden sollten. Dazu brauchte man dann zwei Staffeleien und zwei Leute für das Wechseln der Grafiken. Gewechselt wurde immer dann, wenn die betreffende Kamera ausgeschaltet war. Der Wechsel musste genau vorbereitet und möglichst vor der Sendung noch einmal geprobt werden. Während der Sendung erfolgte das Wechseln auf Kommando von der Regie. Auch hier war größte Sorgfalt angesagt, denn eine Verwechslung oder ein Herunterfallen der Grafik bei eingeschalteter Kamera wären ziemlich komisch gewesen. Ganz Deutschland hätte gelacht. Das durfte nicht sein.

 

Die Filmchen, kaum länger als 30 oder 40 Meter, reisten immer noch per Luftfracht an und mussten vom Flughafen abgeholt werden, genauso wie in den 1950er Jahren. Nur inzwischen wurde das Filmmaterial nicht mehr nach Ohlstedt ins Kopierwerk oder zum Flakbunker auf dem Heiligengeistfeld gefahren. Jetzt gab es eine Hausentwicklung in Lokstedt und die Filme kamen erheblich schneller auf die Tische der Redakteure. Es gab zwei Redaktionsgruppen, „Film" und „Wort", die sich ergänzten oder auch nicht, je nach Materiallage. Film und Sprecher wechselten sich in der Sendung ab, möglichst nach der Regel „Sprecher - Film - Sprecher - Film". Wenn aber die Nachricht sehr lang war, und man musste sie ausführlich behandeln und es gab dazu nur einen sehr kurzen Film, kooperierten die beiden Redaktionsgruppen. Eventuell wurde mit dem Film begonnen und der Streifen aus der Sprecherkabine kommentiert. War der Film fertig, wurde ins Studio umgeschaltet. Dann folgte die Nachricht mit dem Nachrichtensprecher im On. Wichtig war bei dieser Prozedur für die Regie, das Ende des Films zu kennen. Wehe, der Sprecher war zu langsam und er sprach noch, obwohl der Film längst fertig war. Da man den Sprecher mit seinem Text nicht abschneiden konnte, lief der Film dann weiter, das heißt es war nur Schwarzfilm zu sehen. Sehr peinlich für die Regie, weil die Sendung nicht sorgfältig genug vorbereitet schien, denn die Länge des Films und die Dauer der Kommentare wurden vorher genau gestoppt. Den Sprechertext hatte der Regisseur auf dem Mischpult liegen, er wusste dadurch immer genau, an welcher Stelle der Sendung er sich befand. Er konnte dem Redakteur, der in der Sprecherkabine neben dem Sprecher saß, Zeichen geben, entweder mehr Gas, also schneller sprechen, oder aber der Sprecher sollte nicht so hastig sprechen.

 

Die Kameramänner bekamen einen Ablaufplan von der Regie, damit sie wussten, wann und von welcher Position aus sie dran waren. Dabei musste die Fahrzeit einkalkuliert werden, die die Kameras brauchten, um neue Positionen zu erreichen. Ihre Fahrt musste außerdem so eingerichtet sein, dass sie eine andere Kamera auf ihrem Weg nicht behindern oder womöglich gar in ihr Bild geraten konnten. Zu jeder Kamera gehörte ein Kabelträger, der das schwere Kamerakabel immer so legen musste, dass der Kameramann ohne Probleme seine Kamera im Studio hin und herfahren konnte. Es wird aus dieser Schilderung sicher deutlich, wie kompliziert es damals war, mit den für heutige Verhältnisse primitiven Mitteln eine fehlerlose Sendung quasi aus dem Hut zu zaubern.

 

Auf dem Mischpult, an dem der Regisseur und die Bildmischerin saßen, waren im Prinzip sieben Ein- bzw. Ausgänge zu bedienen. Es gab drei Kameras, ab 1962 einen Dia-Geber für einzublendende Fotos, ein Stör-Dia für Unterbrechungen und Fehler aller Art, dann die Tagesschau-Uhr, einen Filmgeber und einen Ausgang zum sogenannten Stern in Frankfurt, der Sendezentrale des Deutschen Fernsehens. Aus Frankfurt kam übrigens auch die Wetterkarte, für Joachim Reiche neben der Uhrzeit immer die wichtigste Nachricht des Tages. Kompliziert war der Umgang mit dem Filmgeber. Es handelte sich um eine Fernsehkamera, die den Film von einen 16mm-Filmprojektor abfilmte. Der Filmgeber brauchte immer sechs Sekunden, bis der Projektor und die Fernsehkamera bildsynchron liefen. Das bedeutete, dass man den Film sechs Sekunden vor dem Einblenden in die laufende Sendung starten musste. Das waren in der Regel etwa zehn Worte, je nach Sprecher. Man musste also die Sprecher mit ihrer Sprachge-schwindigkeit genau kennen. Kopeke sprach relativ ruhig, machte aber längere Pausen nach einem Punkt oder Komma. Das konnte schon mal die Zeit des letzten Satzes vor dem nächsten Filmeinsatz um eine Sekunde verlängern - wenn man nicht aufpasste. Die anderen Sprecherwaren deutlich langsamer. Unangenehm war es, wenn der Filmstart verpatzt wurde und der Sprecher sagte: „Dazu haben wir einen Filmbericht vorbereitet!" und dann, schwupps, rüber geschaltet wurde auf den Filmgeber. Der war aber noch nicht so weit, weil er das Startkommando nicht gehört, überhört oder sonst wie gepennt hatte. Der Sprecher blieb im Bild, und blieb im Bild, und blieb im Bild, saß auf seinem Stühlchen, guckte verlegen oder unsicher in die Kamera und nichts passierte. Die Zwangspause mitten in der Sendung dauerte zwar immer nur höchstens vier Sekunden, aber das kam uns vor wie eine halbe Ewigkeit.

 

Es muss Anfang 1962 gewesen sein, da waren die Fernseh-Richtfunkstrecken fertig und es war möglich, ohne komplizierte technische Umschaltmanöver über den Frankfurter Stern auch aus anderen Fernsehstudios Beiträge zu senden. Das geschah allerdings immer noch live, denn - die unglaublich teuren Video-Recorder und Abspielgeräte der amerikanischen Firma Ampex standen zunächst nur in Lokstedt und die Bedienung war sehr kompliziert. Für die Einspielungen aus anderen Sendern bekam dann die Tagesschau-Regie einen neuen Kanal, damit man auch vom Sprecher nach Bayern, dann auf die Grafik und dann auf den Filmgeber überblenden konnte.

 

Mittelpunkt des Deutschen Fernsehens war die Tagesschau-Uhr. Für den Tagesschau-Chef Joachim Reiche, war dies die wichtigste Nachricht des Tages: die Uhrzeit! Mit großer Energie und manchmal sehr lautstark, drang er darauf, dass der Grundsatz „Uhrzeit geht vor allem anderen" beachtet wurde, kompromisslos. Bei der Schaltzentrale in Frankfurt- setzte er durch, dass der Stern seiner Uhrzeit-Doktrin bedingungslos gehorchte. Ohne Rücksicht auf noch nicht fertige Regionalprogramme aus Bayern oder Köln, wurden die unpünktlichen Regional- Sendungen zehn Sekunden vor Acht gekappt, egal wie sehr die Fernsehchefs der anderen Sender danach auch tobten. Acht Uhr war acht Uhr und die ganze Nation wusste, wenn aus dem Fenster des Nachbarn die Tagesschaufanfare erklang, war es garantiert acht Uhr. Niemals anders. Keine Ausnahme. Die Tagesschau-Uhr lag auf unserem Ausgangsmonitor und wurde dem „Stern" in Frankfurt angeboten, das heißt sie lag ständig auf Sendung. Der Stern orientierte sich nach unserer Uhr. Sechs Sekunden vor acht bekam der Filmgeber in der Tagesschau das Kommando „Film ab" und wenn der Zeiger der Uhr auf Zwölf hüpfte, ging die Bildmischerin ruber auf den Tagesschau Trailer, der Tonmeister zog den Tonregler hoch, die Fanfare erklang und ab ging es in die Stuben der deutschen Fernsehgemeinde.

 

Aber trotz aller damals hervorragenden Sendetechnik und der erstklassigen Redaktion hätte die Tagesschau niemals diesen herausragenden Ruf unter allen deutschen Fernsehsendungen erringen können, wenn nicht die Studiobesatzung ein derart solides Fundament für die Sendung gewesen wäre.. Für Reiche war die Reihenfolge das Wichtigste: Mit was wurde aufgemacht, was gab es Neues, was waren die Ereignisse, von denen die Bürger noch nichts wussten, die man ihnen aber mitteilen musste? Natürlich gab es auch ein bisschen seriösen Klatsch, allerdings weit über dem Niveau der Bild-Zeitung. Berichte vom Presseball, Weltrekorde, Hochzeit einer Konigin, Schiffs- und andere Untergänge - das kam alles vor, wenn es Filme dazu gab.

 

Sensationen gab es natürlich auch. Einmal, ich glaube es war schon 1961, verunglückte ein Eisenbahnzug in Südtirol, Italien. Der Sendeleitung war es gelungen, eine direkte Schaltung nach Wien zu organisieren, und ich hatte auf einem Extramonitor das Ausgangsbild des Österreichischen Fernsehens. Sechs Sekunden vor dem vereinbarten Stichwort ging das Kommando nach Wien, „Film ab", und tatsächlich starteten die Wiener den Film korrekt. Aufatmen im Studio. Die Kollegen von heute, die offenbar ohne große Probleme zwischen Washington, Moskau und Tokio hin- und herschalten, können sich wohl kaum die viele Vorarbeit der Redaktion und der Technik vorstellen, die nötig war, um 1960 ein kleines Filmchen aus dem Ausland live in eine Fernsehsendung einzuspeisen. Und dann der Ton. Auch der lief problemlos ab. Ein Redakteur verlas in Wien einen Text, der über das Tageschau-Tonmischpult zum Stern nach Frankfurt lief. Als Länge hatte die Redaktion zwei Minuten vereinbart. Schon bald war aber hörbar, dass der Redakteur in Wien wohl ein „Heimatvertriebener" aus Südtirol war, der es jetzt den Italienern heimzahlte. Das Eisenbahnsystem sei unter der Herrschaft der Italiener heruntergekommen, Lokomotiven und Gleismaterial verlottert, das sehe man ja an diesem Unglück, und die Toten zählten wohl nichts für die italienische Regierung. Ungebremst ging diese Hasstirade über den Sender in die deutschen Wohnstuben, begleitet von Bildern zerstörter Waggons und dem Abtransport von Verletzten. Lähmendes Entsetzen im Studio. Der Redakteur, der neben mir saß, hatte so etwas wie einen Schock, der von Sekunde zu Sekunde deutlicher wurde. Dann wurde die Tür aufgerissen, ein Redakteur stürzte rein: „Stopp", rief er. Ich dachte gar nicht daran, irgendeinem Redakteur zu gehorchen und die  Sendung zu unterbrechen. Dies war eine Sendung des Österreichischen Fernsehens, die ich nicht zu zensieren hatte. Schließlich gab es die Pressefreiheit und die politischen Komplikationen wären bei einer Zensur nicht auszudenken gewesen. Immer mehr Redakteure kamen verbotenerweise ins Studio und redeten wild durcheinander. Der Tonmeister wollte wissen, was er tun solle, auch die Bildmischerin fragte, ob sie rausgehen solle. Ich wollte aber die vereinbarten zwei Minuten senden. Das gehörte zu meinem Auftrag. Aber nach zwei Minuten war der Giftbolzen immer noch am Reden. Da rief ich Reiche in seinem Büro an, um zu fragen, was zu machen sei. Der war aber ganz ruhig, meinte „Nur nicht die Nerven verlieren" und ich sollte mich auf harmlose Art und Weise von Wien zu verabschieden. Das war leicht gesagt.

 

Ich nahm zuerst das Filmbild weg und sendete das Stör-Dia. Das war bestimmt keine Zensur, denn die Bilder kannte man ja inzwischen. Dann, ca. 15 Sekunden später, ging das Daumensignal an den Tonmeister hinter mir, und die Stimme des Randalierers aus Wien erlosch. Der Sprecher hatte inzwischen einen Zettel von mir bekommen, auf dem stand, er möge eine Entschuldigung für die angebliche Störung abgeben. Niemandem war etwas aufgefallen, wohl selbst den Wienern nicht, denn niemand hat sich beschwert.

 

Ein Jahr später gab es eine Sternstunde für die Tagesschau. Charles de Gaulle wollte in Paris eine Rede an die Nation halten und das französische Volk sollte ihm dabei zusehen. Joachim Reiche wollte Ausschnitte dieser Rede in der Tagesschau senden, und zwar ebenfalls live. Er erreichte auch tatsächlich die Zustimmung des französischen Fernsehens. Bei uns begannen die Vorbereitungen dafür schon Wochen vor dem großen Ereignis.

Zunächst wurde der Text der Rede sorgt. Die Redaktion legte danach fest, welche Passagen bei uns zur Sendung kommen sollten. Für die Regie war die Livesendung ein kompliziertes Problem. Wann gingen wir in das französische Femsehen rein und wann wieder raus? Ab wann fing unser Filmsprecher an, die deutsche Übersetzung einzusprechen und wie lange brauchte er für den seinen Text?

 

Der Redakteur Joe Rohleder, ein vergnügter Saarländer, half uns aus der Verlegenheit. Er war ein begnadeter Stimmen-Imitator und de Gaulle zu imitieren war eine seiner liebsten Nummern. Er stellte sich also ins Studio und verlas den Text der Rede: Die gleiche langsame und überbetont deutliche Aussprache, die bedeutungsvollen Pausen und schließlich das Anheben der Stimme an besonders bedeutenden Stellen. Das Studio raste vor Begeisterung. Es war eine der besten Kabarettnummern, die ich je gesehen habe. Mit Rohleders Hilfe wurde die Rede seziert und in Sekundentakes aufgeteilt. Der Tag der Sendung kam, alle waren aufgeregt. Ich hatte de Gaulle auf meinem Kontrollmonitor und der Stern in Frankfurt meldete alles klar für die Umschaltung. Und wirklich: Kopeke kam auf die Sekunde genau an der berechneten Stelle an. Mit leichtem Vibrato in der Kopeke-Stimme, eingedenk des großen Momentes für das europäische Fernsehen, sprach er: „Und jetzt schalten wir um nach Paris, wo General de Gaule gerade seine Rede begonnen hat." Und genau im selben Tempo wie Rohleder bei seiner Imitation, kamen die Worte aus dem Munde des Generals. Also ließ ich de Gaulle die geplanten 20 Sekunden reden und gab dann dem Sprecher in der Kabine das Zeichen für seinen Einsatz. Der war dann auch mit seinem deutschen Text plangemäß fertig. Dann noch zwei Sätze de Gaulles im Original, und schwupps, raus waren die Franzosen, und Kopeke fuhr fort mit den Meldungen des Tages. Alle waren mächtig stolz.

 

Dann abends zu Hause. Meine Frau hatte ich gebeten, sich unbedingt die Sendung anzusehen, weil es etwas Besonderes gäbe. „Und", fragte ich sie, „wie war's?" „Ganz gut", meinte sie, „wie immer". Ich war irritiert. „Und de Gaulle? Wie fandest Du das?" „Ja, auch gut, alles bestens." Meine Enttäuschung war groß. Ich wollte als Super-Regisseur gefeiert werden. Erst später begriff ich, dass meine Frau uns unbewusst ein großes Kompliment gemacht hatte. Von unserer großen Anstrengung hatte niemand etwas gemerkt. Heute werden die Probleme bei der Produktion der Tagesschau kaum geringer sein als damals, nur eben anders. Aber das Engagement, das nötig ist, um eine gute Sendung abzuliefern, ist gewiss so groß wie vor 40 Jahren. Nach wie vor ist die Tagesschau noch immer die beste Sendung des deutschen Fernsehens.