Sammlungen

Alte Hamburger Lichtspielhäuser (3):

„Erwerbslose zahlen 60 Pfennig!" Das Thalia-Kino 1912-1994

Von Volker Reißmann

Zugegeben, allzu häufig war ich nicht als Zuschauer in den „Thalia-Lichtspielen an der Grindelallee. Dennoch erinnere ich mich gut an eine Vorstellung während des Filmfestes 1992: Es lief die Verfilmung von Tony Hillermans Ethno-Thriller „The Dark Wind" (dt.: „Canyon Cop"). Für meinen Sitznachbarn war es schon der dritte Film an diesem Tag und nur gelegentliche, dezente Seitenstöße konnten ihn noch am Einschlafen hindern. Seine Müdigkeit muß in der Tat groß gewesen sein, denn die Sitzbänke im „Thalia" waren äußerst unbequem. Überdeutlich drückten sich auf einigen Sitzplätzen die Sprungfedern durch den Polsterbezug, während manche der Klappstühle in den Sitzreihen aufgrund von Altersschwäche bereits vollständig abgebaut waren. Manchmal war es deshalb spannender, Wetten darauf abzuschließen, ob das knarrende Sitzmobiliar die Vorstellung noch heil durchstehen würde, als den eigentlichen Film zu betrachten.

 

Doch das "Thalia" war ein Haus mit Tradition und zu der Zeit sogar Hamburgs ältestes, durchgehend bespieltes Kino [das 1900 gegründete „Knopfs Lichtspielhaus", welches heute als „Docks" auch Filmvorführungen anbietet, kann durch langen Leerstand und zeitweilige Umfunktionierung in eine Diskothek nicht mitgezählt werden]. Man schrieb das Jahr 1912, als das einstöckige Haus an der Grindelallee 116 abgerissen wurde. Die beiden Investoren P.R.H. Becker und Ernst Rasmussen, die das Grundstück gekauft hatten, ließen ein fünfstöckiges Wohnhaus mit Lichtspieltheater im Hinterhof errichten, dessen Eingangsbereich an der Grindelallee lag. Ernst Rasmussen wählte für sein bereits Ende 1912 eröffnetes Lichtspieltheater den an renommierte Opernhäuser erinnernden Namen „Scala". Über die Programmgestaltung der ersten Jahre geben die Quellen im Staatsarchiv leider nur wenig Auskunft: Das Scala-Theater taucht lediglich ein einziges Mal in einer Liste der Gewerbepolizei vom 24. Januar 1913 auf, in der diejenigen 56 Hamburger „Kinematographen-Theater" verzeichnet sind, denen die Veranstaltung von nachmittäglichen Kindervorstellungen erlaubt wird.

 

Ernst Rasmussen hatte wohl gehofft, erfolgreich an den Kinoboom des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts anknüpfen zu können, als das Kino seinen Ruf als billige Jahrmarkts-Attraktion endgültig abschüttelte und in ortsfeste Lichtspielhäuser wechselte. Doch schon bald mußte er feststellen ,daß der Zuschauerandrang nicht dauerhaft anhielt. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren während des ersten Weltkrieges muß es wohl sogar zu einer vorübergehenden Schließung des „Scala"-Theaters gekommen sein, denn im „Hamburger Adreßbuch" von 1917 erscheint es plötzlich nicht mehr. 1918 und 1919 versuchten laut besagtem Adressbuch kurzzeitig ein „H. Lampe" und „N. Reich", den Kinobetrieb fortzuführen, offensichtlich ebenfalls ohne großen Erfolg.

 

Die Bevölkerungsstruktur sah zu jener Zeit im Grindel-Viertel völlig anders aus als heute: Im Zuge der Stadterweiterung waren viele Hamburger Juden im 19. Jahrhundert in diese Gegend gezogen. Mitte der 20er Jahre dieses Jahrhunderts lebten somit um die 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung Hamburgs in Rotherbaum, Harvestehude, Eppendorf und Eimsbüttel. Nur etwa 100 Meter vom „Scala"-Theater entfernt lagen die große Synagoge am Bornplatz und direkt daneben die Talmud-Tora-Realschule. Das Grindel-Viertel bildete den Mittelpunkt im Leben der jüdischen Gemeinde in Hamburg.

 

Am 11. Juli 1919 beantragte eine gewisse Ranette Salfeld bei der Gewerbeanmeldung der Polizeibehörde Hamburg die Genehmigung, Inhaberin eines Lichtspieltheaters an der Grindelallee 116/118 zu werden. Kurz zuvor hatte ihr Bruder, Julius Polack, ein Grundstücksmakler, das Haus an der Grindelallee 116 erworben. Seine vierundvierzigjährige Schwester Ranette sah offenbar in der Fortführung des Lichtspieltheater-Betriebs eine erfolgversprechende Aufgabe und zog mit ihrem Mann Emil von der Blücherstraße 6 in den vierten Stock des Hauses an der Grindelallee um, wo sie in der Folgezeit mit ihren Kindern Adolf und Elisabeth direkt über dem Kino wohnten. Diesen Wohnsitz gab sie auch bei der Beantragung einer weiteren Gewerbeanmeldung für den Handel mit Konfitüren und Backwaren am 24. September 1925 an. Mit im Vergleich zu anderen Kinos recht günstigen Eintrittspreisen, dem Abspielen von damals populären Stummfilmen und der rechtzeitigen Umrüstung des Theaters auf den Tonfilm, gelang es den Salfelds, ein Stammpublikum - überwiegend aus der näheren Umgebung - für ihr Kino zu gewinnen.

 

Dies war um so beachtlicher, als das zwischenzeitlich in „Thalia-Lichtspiele" umbenannte Haus mit dem Glamour der großen Traumpaläste der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre als bescheidenes Vorort-Kino bei weitem nicht mithalten konnte. Da es sich - wie bereits erwähnt - im Erdgeschoß eines kombinierten Geschäfts- und Wohngebäudes befand, blieb wenig Platz für den eigentlichen Eingangsbereich. Neben dem Häuschen für die Kassiererin, welches sich direkt an der belebten Straße befand, folgten gleich die beiden Eingangs- Doppeltüren, durch welche man - vorausgesetzt, daß der zur Abgrenzung dienende Stoffvorhang aufgezogen war - direkt in den Kinosaal gelangte. Ein Foto aus der Zeit Anfang der 30er Jahre belegt diese Enge: Direkt über den Kino-Eingang befanden sich die Geschäftsräume des Pianohauses Lorenz, rechts daneben die Schlachterei Jäger. Ein - für die damalige Zeit eher bescheidener - Schriftzug warb für den Tonfilm „Das lockende Ziel" mit Richard Tauber und Ossi Oswalda sowie für den „Bettelstudenten" mit Hans H. Bollmann und Fritz Schulz. Ein Hinweis auf die desolate Wirtschaftslage der frühen dreißiger Jahre liefert das Zusatzschild „Erwerbslose zahlen nur 60 Pfennig!".

 

Die der jüdischen Bevölkerung auferlegten Restriktionen trafen in der NS-Zeit auch die Familie Salfeld. Schon 1934 sahen sie sich gezwungen, ihren Kinobetrieb an Udo Geisler und F. Krämer zu verpachten. In den nächsten Jahren lebten sie vor allem von den Erträgnissen ihrer Liegenschaften an der Grindelallee 116, Brahmsallee 27 und Lübecker Straße 39. Wahrscheinlich seit Mitte der dreißiger, auf jeden Fall aber seit Ende 1938 müssen die Salfelds aufgrund der sich zuspitzenden Situation ernsthaft an Auswanderung nach Südamerika gedacht haben. So verkauften sie Anfang Dezember 1938 ihre Grundstücke. Das Wohnhaus Grindelallee 116/118 mit dem „Thalia"-Kino erwarben Helene Meiniger und Erich Eigenfeldt über den Grundstücksmakler Ludwig Schrabisch für 180.000 Reichsmark. Den Käufern wurde auferlegt, den mit dem bisherigen Pächter der „Thalia-Lichtspiele" geschlossenen Pachtvertrag bis zum 31.12.1941 zu verlängern. Am 7. Juni 1939 wurde der Kaufvertrag vom Reichsstatthalter genehmigt und am 26. Juli 1939 reiste die Familie über London nach Montevideo/Uruguay aus. Wie prekär die Situation damals war, zeigt der Umstand, daß gegen das Reisebüro, daß den Salfelds ihre Schiffspassagen verkauft hatte, ein gerichtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, weil die Familie in ihrer Verzweiflung versucht hatte, verbotenerweise mehrere Passagen gleichzeitig zu buchen, um die Chancen für eine Ausreise zu erhöhen. Und noch kurz nach der Ausreise schaltete sich die Gestapo wegen der unzulässigen Weitergabe eines Klaviers aus dem Besitze der Salfelds an einen Mitbewohner des Hauses in der Grindelallee ein. Emil Salfeld verstarb noch während des Krieges am 25. August 1943 in Montevideo, seine Frau Ranette knapp vierzehn Jahre später, am 5. April 1957, ebenfalls in Uruguay [ihre 1989 verstorbene Tochter Elisabeth reiste übrigens Anfang der 80er Jahre noch einmal auf Einladung des Senats in die Hansestadt und besuchte dabei auch das Kino an der Grindelallee].

 

Ab 1941 wurde der Kinobetrieb von Udo Geisler alleine weitergeführt, bis ein Bombentreffer das Haus in der Grindelallee 1943 schwer beschädigte. Der Dachstuhl und die oberen beiden Stockwerke mit der ehemaligen Wohnung der Salfelds wurden komplett zerstört, der Kinosaal zur Hofseite blieb jedoch wie durch ein Wunder weitgehend verschont. Über dem zweiten Stock baute man in der Nachkriegszeit schnell ein neues Flachdach. Die Familie Meiniger führte das Kino ab 1949 in eigener Regie weiter. Am 23. Januar 1949 war das Kino kurz in einem Sonderbeitrag der Wochenschau „Welt im Film" zu sehen, als alle wichtigen Hamburger Kinobetreiber für einen Tag die Pforten ihrer Häuser schlössen, um gegen die geplante Vergnügungssteuer des Senats zu protestieren.

 

In den fünfziger Jahren zogen im Zuge des Wiederaufbaus der Universität viele Studenten in die Nachbarschaft des Kinos. Der nach mehreren Umbauten nun 475 Plätze umfassende Theatersaal wurde komplett renoviert. 1958 erfolgte die Umrüstung auf das neue CinemaScope-Breitwandformat. Im „Thalia" wurden Erstaufführungs-Filme, die bereits in den großen Kinos in der Innenstadt gelaufen waren, mit mehreren Wochen Verspätung nachgespielt, weil dann die Mietgebühren für die Filmkopien preiswerter waren. Das „Thalia" war darüberhinaus auch Spielstätte für die diversen Hamburger Kinotage in den 70er Jahren und die späteren Filmfestivals. Die fast zum selben Zeitpunkt wie das „Thalia" eröffneten „Kammer-Lichtspiele" an der Grindelallee 26 schlössen zwar 1968, aber ernsthafte Konkurrenz erhielt das Kino knapp vier Jahre später mit Einweihung des „Abaton" am Grindelhof, nur einen Häuserblock entfernt, welches sich schnell aufgrund der Lage und seines unkonventionellen Filmangebots zu einer „wahren Goldgrube" entwickelte.

 

Obwohl von Architekturexperten gerne als das „besterhaltenste Hamburger Vorkriegskino" bezeichnet, nagte der „Zahn der Zeit" unerbittlich an dem Kinosaal: Von einer nachträglich eingebauten Zentralheizung einmal abgesehen, war seit den fünfziger Jahren nicht mehr viel für die Bauunterhaltung getan worden. Der kleine Rang blieb auch bei den Abendvorstellungen meistens geschlossen, weil das Parkett für die wenigen Zuschauer bequem ausreichte.

 

In ihrer Diplomarbeit plädierten 1983 die Architekturstudenten Reinhold Happel und Holger Priess für eine unbedingte Erhaltung des Kinos und Unter-Denkmalschutz-Stellung, weil das „Thalia" inzwischen das einzige Bezirkskino aus der Vorkriegszeit sei: „Der Kinosaal ist gekennzeichnet durch den einfachen rechteckigen Grundriß, den gradlinig ansteigenden Boden und den gerade abgeschlossenen Rang. Die Projektionsfläche ist sehr hoch an einer guckkastenbühnenartig entwickelten Wand angebracht. Hierin druckt sich eine noch an der Theaterarchitektur orientierte Raumauffassung aus [...] Die Ausstattung ist traditionell und nur wenige Details sind individuell gestaltet, aber insgesamt ergibt sich ein geschlossener Eindruck. [...] Die typische Saalarchitektur und die komplette Ausstattung sollten Grund genug für einen Erhalt sein", heißt es in der Arbeit. Aber die zuständigen behördlichen Stellen wiegelten ab: „Wir können leider nichts tun, das Haus ist nicht denkmalschutzwürdig", soll Baudezement Wolfgang Schmietendorf laut einem Artikel im „Hamburger Abendblatt" vom 30. Dezember 1994 erklärt haben.

 

Aufgrund des Ausbaus des nahegelegenen „Grindel"-Kinos zu einem UFA-Multiplex-Palast mit mehreren Sälen, der Erweiterung des „Abaton"-Kinos um einen weiteren Saal („oberes Kino") und wegen des damals gerade bevorstehenden Baus des „Cinemaxx"-Filmfestspielhauses am Dammtorbahnhof sahen die Gebrüder Meininger keine Perspektive mehr für die „Thalia-Lichtspiele". Zusammen mit einer Erbengemeinschaft, der die andere Hälfte des 640 Quadratmeter großen Grundstückes gehörte, beauftragten sie das Maklerbüro Gustafsen & Co. mit dem Verkauf.

 

Wenig später wurde beim Bezirksamt Eimsbüttel ein Bauantrag für ein neues kombiniertes Laden-, Büro- und Wohngebäude gestellt. Alle Versuche, das 82 Jahre alte Lichtspieltheater zu retten, scheiterten: Die Initiative von Jens Meyer, dem Betreiber des Kinos 3001, brachte neben 500 Unterschriften nur 5030 Mark. Auch das Angebot von Gert Fölster („Magazin" und „Koralle"), das Grundstück zum geschätzten Verkaufswert von zwei Millionen Mark zu kaufen und als Programmkino im Stil des „Zeise" oder „Abaton weiterzuführen, ließ sich nicht realisieren, da die Gebrüder Meiniger darauf nicht eingingen.

 

So fiel am 30. Dezember 1994 mit dem Ende der 20.30 Uhr-Abendvorstellung von „Forrest Gump" zum letzten Mal der Vorhang im „Thalia" an der Grindelallee 116. Ein NDR-Team vom „Hamburg Journal" durfte an diesem Tag erst das Kino betreten, nachdem sie den Kinobetreibem die Zusicherung gegeben hatten, auf ein Interview mit der Kassiererin Jutta Behrens und dem Vorführer zu verzichten. Beiden waren auch Statements gegenüber der Presse untersagt worden. Auf dem letzten Programmzettel für Dezember 1994 dankte die Familie Meininger ihrem Stammpublikum für die jahrelange Treue und wünschte lapidar ein frohes neues Jähr. Schon Anfang Januar 1995 wurde der moderne Projektor von der Firma Kinoton abtransportiert. Das Mobiliar wurde im Laufe des Jahres ausgeschlachtet.

 

Wegen laufender Mietverträge mit dem angrenzenden Ladengeschäft „Don't Look!" und einiger Wohnungen konnte das Gebäude erst Anfang 1997 abgerissen werden. Im neu errichteten Gebäudekomplex eröffnete im Juli 1998 u.a. ein „Budnikowsky-Drogeriemarkt. Somit teilten - wenn auch etwas verspätetet - die „Thalia- Lichtspiele" das gleiche Schicksal vieler anderer Hamburger Kinos, an deren Stelle schon vor Jahrzehnten Supermärkte oder andere Ladengeschäfte getreten waren.