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Alte Lichtspielhäuser (2):

Als „Bali“ noch in Hamburg lag

Von Michael Töteberg

Die Initiative ging von der Reichsbahn aus, die ihren Kunden die Wartezeit verkürzen wollte: ein Kino direkt neben dem Hauptbahnhof, in einem durch Bomben schwer beschädigten HAPAG-Gebäude am Glockengießerwall 8a.
»Die Pläne sind bereits bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet worden«, berichtete das »Hamburger Echo« am 3. März 1949. »Noch in diesem Monat will man mit dem Hamburger Kinobau beginnen.« Die Reichsbahn werde sich bemühen, neben der bizonalen Wochenschau »Welt im Film« auch den ostzonalen »Augenzeugen« und die Wochenschau der französischen Zone zu zeigen, daneben Kurzfilme, Vorträge, kabarettistische Darbietungen; an längere Spielfilme sei nicht gedacht. Es kam anders: Ein wöchentlich wechselndes Programm mit Kulturfilmen war nicht zu realisieren, weil es schlicht nicht genug Filme gab, und auch den Termin - im September sollte das ungewöhnliche Kino eröffnet werden - konnte man nicht einhalten. Nach knapp sechsmonatiger Bauzeit war es am 29. November 1949 so weit: die »Bahnhofs-Lichtspiele«, modern und vielversprechend »bali« abgekürzt, präsentierten sich als das erste neue Kino in Hamburg nach dem Kriege.

»Eigentlich ist alles neuartig an diesem Kino«, so das »Hamburger Echo« am Tag nach der Eröffnung, »die mathematisch durchkonstruierten, gutgepolsterten Sitze (etwa 600), die Bildfront ohne Vorhang und ohne Bühnenumrandung, die 35 Meter lange Reklameleinwand, die Programmuhr, die Korkdecke und die Akustikplatten, die einen ausgezeichnet klaren Ton gewährleisten.« Bauherr war Johannes Betzel, Architekt Ferdinand Streb.
Die Bautagebücher, Zeichenund Fotomappen sind im Hamburgischen Architekturarchiv erhalten. In der »Baurundschau « (40. Jg., 1950, Heft 4) stellte Streb seinen viel beachteten Bau selbst vor, wobei der Architekt gleich im ersten Absatz darauf hinwies, daß er nicht alle seine Ideen verwirklichen konnte: »Die Gebundenheit an das Vorhandene setzte der Gestaltung eines zeitgemäßen Lichtspieltheaters schmerzhafte Grenzen.«

Die vornehm als »Gebundenheit an das Vorhandene« umschriebene Situation: Ferdinand Streb fand eine Ruine vor und hatte den Forderungen des Bauherrn zu entsprechen, der neben dem Kino ein Reisebüro und - in Verbindung mit den auf Gleishöhe liegenden Kellerräumen - eine Expreßgutausgabe wünschte. Das »bali« kam in den ehemaligen Gepäckaufbewahrungsraum im ersten Stock; zu diesem Zweck mußte die alte Dachkonstruktion entfernt werden. Im Erdgeschoß befand sich die Kasse, nach Erwerb der Eintrittskarte ging man die Treppe hoch ins Kino. Durch das großzügig gestaltete, dank sieben Meter hoher Glaswänden lichte Vestibül wurde dieses Manko optisch ausgeglichen: Die Außenfassade des »bali« konnte es mit jedem modernen Filmpalast aufnehmen. Großstadtflair, Verbindung mit dem Straßenleben, Vitrinen, Programmuhr und ein Treffbuch in der Kassenhalle, das in Schneckenform an der Decke freischwebende Neon-Leuchtrohr war zeitgemäß schick, während die Innenausstattung einen Abglanz vergangenen Luxus’ aufwies: ostindischer Palisander bildete die Wandvertäfelung, die Decke war leicht rötlich getönt, die Wände mit türkisgrünem Anstrich versehen (abwaschbar). Eine seltsame Mischung aus praktischem Zweckbau mit Fuffziger- Jahre-Charme und exotischer Verheißung: Das »bali« machte seinem Namen Ehre. »Die Leinwand ist als eine in sich geschlossene Bildwand mit Figuren aus den balinesischen Schattenspielen ornamental aufgegliedert, dessen mittleres Wandbild sich bei Vorführungsbeginn automatisch nach unten versenkt«, heißt es in dem Artikel des Architekten. Diese Wandmalerei, von dem Bauhaus- Künstler Kurt Kranz gestaltet, zollte dem Fernweh Tribut: Vielleicht warteten die Reisenden nur auf den Anschluß nach Itzehoe, das »bali« führte sie in exotische Länder. Zur Eröffnung lief der Farbfilm »Die Wildnis ruft« (mit Gregory Peck und Jane Wyman).

 

Der Verzicht auf eine Bühnenwand mit Vorhang wurde allgemein begrüßt. Gewisse Zweifel an dem balinesischen Kunstwerk von Kranz scheint der Hausherr jedoch gehabt zu haben, jedenfalls ließ er gegenüber den Journalisten durchblicken, dies müsse nicht immer so bleiben: »Falls dem Publikum die südlichen Damen zu viel werden, will man andere Bilder auf die Vorderfront pinseln«, vermeldete das »Hamburger Echo« im Eröffnungsbericht. »Und dann noch etwas Neues: die 29. und zugleich letzte Reihe wird wegen der Doppelsitze nur an Paare vergeben«, was die Zeitung zu dem Kommentar veranlaßte: »Vermutlich werden sie ständig ausverkauft sein.« Ganz dunkel wurde es in diesem Kino jedoch nie: Dem Charakter als Wartesaal gemäß war durchgehend Einlaß, ein ständiges Kommen und Gehen. Spielfilme - der Eröffnungsfilm war drei Stunden lang! - paßten nicht ins Konzept: Der Reisende kam, wenn der Film bereits lief, und mußte vielleicht gerade an der spannendsten Stelle gehen, um seinen Zug nicht zu versäumen.

 

Im Juni 1952 konnte das ursprüngliche Konzept umgesetzt werden: Aus dem »bali« wurde das »aki«, das »Aktualitäten-Kino«. Im Vorjahr waren bereits in Frankfurt, Köln, Stuttgart, München und anderen Städten »akis« in den Bahnhöfen eröffnet worden. In Hamburg war nur ein Umbau notwendig: Ein Mittelgang wurde eingerichtet, die Reihenabstände vergrößert und die Zahl der Sitzplätze reduziert auf rund 500. Das »aki«-Signet war ein Globus mit Schriftzug, das Motto lautete: »In 55 Minuten um die Welt«. In den Kinoanzeigen wurde hervorgehoben, daß das »aki« »als einziges Hamburger Filmtheater Aktualitäten aller vier Wochenschauen« brachte. Es wurde non stop gespielt von 9 Uhr morgens bis 24 Uhr (sonntags ab 11 Uhr), der Eintrittspreis auf allen Plätzen betrug 50 Pfennig, und es liefen »immer jugendfreie Filme«.
Das Programm in der Woche 9. Januar 1964 brachte die übliche Mischung: Wochenschau- Aktualitäten - der Papst in Israel, Bundeskanzler Erhard in Texas, die Meisterkür von Marika Kilius/Hans-Jürgen Bäumler -, zwei Kulturfilme - »Bern, Stadt im Herzen Europas«, in Farbe, und »Vom Hamburger Müll: Die Kehrseite« - und ein »Tom & Jerry«-Zeichentrickfilm. Am Donnerstag, den 16. Januar war die letzte Vorstellung: Das Haus mußte dem Ausbau des Wallrings weichen, es wurde abgerissen.

 

Was dem Hamburger »aki« damit erspart blieb, deutete sich bei der Neueröffnung des »Bali« - nun auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs, im Klockmannhaus in der Kirchenallee - am 27. Juli 1973 an: Gezeigt wurden »Kwan Fu - Bande der Tigerkralle « und »Liebe zwischen Tür und Angel«. Die Zeit von Wochenschau, Kulturfilm und kurzen Trickfilmen war vorbei. Die verbleibenden »akis« zeigten Action- und Sexfilme, in der Schlußphase waren sie nur noch trostlose Abspielstätten für Schmuddelsex und Porno. In den Bahnhöfen waren sie ein Schandfleck, und die Bundesbahn verlängerte die Pachtverträge nicht mehr: Zum Jahreswechsel 1995/96 schlossen die letzten »akis« in Frankfurt a.M. und München.